Jacques Lacan

L’écrit et la vérité



Die Schrift und die Wahrheit



Der Name des Autors dieses [links abgedruckten] gegliederten Zeichensatzes [menue formule] lautet:



Meng-tzu

Diese zweispaltige Formel [menue formule] findet sich, wenngleich sie etwa 250 vor Christus und, wie Sie sehen, in China geschrieben wurde, im 2. Kapitel des IV. Buches, zweiter Teil – was gelegentlich anders, dann als Teil VIII im IV. Buch, zweiter Teil, Abschnitt 26 klassifiziert wird – des Meng-tzu, den die Jesuiten Mencius3 nennen, waren sie doch weit vor der Zeit, in der Sinologen aufkamen, d. h. zu Beginn des XIX. Jahrhunderts, nicht früher, dort vor Ort.

Ich hatte das Glück, das erste Buch zu erwerben, in dem eine chinesische Schrifttafel mit in unserer Schrift Gedrucktem [choses écrites, imprimées, de notre cru] zusammengeführt finden. Es handelt sich um eine Übersetzung von Fabeln Aesops.4 Diese ist 1840 erschienen und rühmt sich, das erste Buch zu sein, mit dem diese Verbindung [conjonction] verwirklich wurde. Dies ist nicht ganz dasselbe wie das erste Buch, in dem das erste Mal chinesische Schriftzeichen [caractères] und europäische Buchstaben [caractères] gab.

1840 war, werden Sie sagen, in etwa die Kenntnis jenes Augenblicks [note du moment], in dem es die ersten Sinologen gab. Die Jesuiten waren schon recht lange in China, wie sich einige [von Ihnen] sich erinnern. Sie hätten beinahe eine Verbindung Chinas mit dem hergestellt, das sie als Missionare repräsentierten. Doch haben sie sich ein wenig [zu sehr] durch die chinesischen Rituale beeindrucken lassen und das hat ihnen, wie Sie vielleicht wissen, mitten im XVIII. Jahrhundert einige Probleme mit Rom verursacht, das bei dieser Gelegenheit keinen besonderen politischen Scharfsinn an den Tag gelegt hat. Sowas unterläuft Rom durchaus.

Schließlich gibt es bei Voltaire – falls Sie Voltaire lesen, doch natürlich liest niemand mehr Voltaire, Sie haben darin Unrecht, es enthält ganz viele Dinge – in Das Zeitalter Ludwigs XIV.5 einen Anhang, der – glaube ich – eine (Schmäh-)Schrift [libelle] besonderer Art darstellt, eine großartige Ausarbeitung über diesen Zwist der Rituale6 , von dem viele historische Ereignisse gegenwärtig herrühren.

Wie dem auch immer sei, es geht hier um Mencius, und Mencius hat das, was ich an die Tafel schrieb, geschrieben. Da dies offen gesagt nicht Teil meines heutigen Diskurses ist, werde ich es pünktlich vor halb eins unterbringen [case].

Ich werde Ihnen vortragen, oder ich werde Sie spüren lassen, was das heißt, und dies wird uns in Bezug auf das, was Gegenstand dessen ist, das ich heute darlegen will, ins Bild setzen, sprich – darüber, und das beschäftigt mich, was die Funktion der Schrift ist.


1

Die Schrift existiert in China seit Menschengedenken [un temps immémorial].

Ich will [damit] – bevor wir überhaupt im eigentlichen Sinne von Werken sprechen – sagen, dass die Schrift schon außerordentlich lange existierte. Man kann nicht ermessen, seit welcher Zeit es sie gab. Diese Schrift spielt in China für eine gewisse Anzahl von Dingen, die sich ereignet haben, die Funktion eines in jeder Beziehung Dreh- und Angelpunktes, und dies ist für das, was wir über die Funktion der Schrift (nach-)denken können, erhellend.


Sicher ist, dass die Schrift eine ganz und gar entscheidende Rolle als Träger [support] von etwas gespielt hat, zu dem wir besagten Zugang und nichts anderes sonst haben, nämlich eines Prototyps sozialer Struktur wie sie sich über sehr lange Zeit hinweg erhalten hat. Bis in die jüngste Zeit konnte man davon ausgehen, dass es in Bezug auf das, was sich in China zutrug [se supportait], eine ganz andere Herkunftsgeschichte [filiation] gab, dass sich bei uns – obendrein namentlich durch eine dieser Schulen [phylums], für die wir und besonders interessieren, sprich, die philosophische Schule – daraus etwas ergab [s’était engendré], das einen Knotenpunkt [nodal] für ein Verständnis dessen darstellt, worum es sich beim Diskurs des Herrn handelt, wie ich ihn im letzten Jahr aufgezeigt [pointé] habe.

Hier nun, wie sich diese Inschrift ausspricht. Wie ich Ihnen bereits beim letzten Mal an der Tafel aufgezeigt habe, bezeichnet dies den Himmel und spricht sich t’ien aus. T’ien hsia, das bedeutet ›unter dem Himmel‹, alles was unter dem Himmel ist. Hier findet sich an dritter Stelle ein Attribut, tchih, es handelt sich um etwas, das unter dem Himmel ist. Was ist unter dem Himmel? Das, was anschließend kommt. Was Sie da [dann] sehen, ist nichts anderes als die Bezeichnung des Sprechens [parole], das wir bei dieser Gelegenheit yen aussprechen. Yen hsing habe ich bereits das letzte Mal auf die Tafel gebracht und sie darauf aufmerksam gemacht, dass dieses hsing gerade eines der Elemente sei, die uns in diesem Jahr beschäftigen werden, um so mehr als der Term [terme], der diesem am meisten nahe kommt, der der Natur ist. Genauer gesagt, ist yeh etwas, das einen Satz schließt, ohne jedoch direkt anzusprechen [sans dire à proprement parler], das es sich um etwas von der Art [ordre] handelt, den wir ›ist, sein‹ [est, être] nennen. Es handelt sich um einen Schluss [conclusion], oder sagen wir, eine Hervorhebung [ponctuation], denn der Satz wird hier – zumal von rechts nach links geschrieben wird – mit einen gewissen tse fortgesetzt, das ›infolgedessen‹ [par conséquent] bedeutet oder das jedenfalls auf die Folge hinweist.

Sehen wir also, worum es sich handelt. Yen bedeutet nichts anderes als ›Sprache‹ [langage], doch wie alle Begriffe der chinesischen Sprache ist es auch möglich, diesen [Term] im Sinne eines Verbs zu verwenden. Folglich kann dies gleichermaßen die Sprache als auch den, der spricht, bezeichnen, und wer spricht was? Das wäre in diesem Fall das, was folgt, also hsing, die Natur, was unter dem Himmel von der Natur spricht, und yeh wäre eine Betonung.

Nichtsdestoweniger sehen Sie – und deshalb ist es interessant, sich mit einem Satz der Schriftsprache zu beschäftigen –, dass Sie die Dinge auch anders zuschneiden und sagen können: das Sprechen [parole], die Sprache [langage] also, denn wenn es sich darum handelt, das Sprechen zu präzisieren, hätten wir ein anderes, etwas unterschiedliches Zeichen [caractère]. Auf der Ebene, auf der es hier geschrieben steht, kann das Schriftzeichen also sowohl ›Sprechen‹ als auch ›Sprache‹ bedeuten. Derartige Zweideutigkeiten [ambiguïtés] sind von wesentlicher Bedeutung [fondamentales] für den Gebrauch des Geschriebenen, und dies macht die Reichweite [fait la portée] dessen aus, was ich schreibe. Eie ich Sie bereits zu Anfang meiner diesjährigen Vorlesung, und ganz besonders beim letzten Mal, aufmerksam gemacht habe, erhält Sprache ganz besonders durch den Vorgang eines immer indirekt erfolgten Verweises auf alles, was mit Sprache zu tun hat, seine Tragweite [portée].

Man könnte also auch sagen, als etwas, das in der Welt, also unter dem Himmel ist, entspricht die Sprache dem hsing, der Natur. Tatsächlich ist diese Natur, wenigstens bei Meng-tzu, nicht irgendeine Natur, [sondern] es handelt sich gerade um die Natur des Sprechwesens [être parlant], für die er in einer anderen Textpassage auf die Präzisierung Wert legt, dass es zwischen dieser Natur und der Natur der Tiere einen Unterschied gibt, was er in zwei Termen [termes] hervorhebt, die genau dies – eine unermessliche Differenz [différence infinie] nämlich – besagen und die vielleicht das darstellt, was zuvor definiert wurde. Sie werden, wenn wir die eine oder die andere dieser Interpretationen aufgreifen, erkennen, dass die Grundstruktur [axe] des Auszusprechenden in der Folge hierdurch nicht verändert wird.



tse


ku

Tse ist also die Folge. Tse ku, das ist die Folge einer Ursache [conséquence de cause], denn ku besagt nicht anderes als ›Ursache‹ [cause], was der Term auch immer an Mehrdeutigkeit [ambiguïté] enthalten mag.

Ein bestimmtes Buch, nämlich Mencius on the Mind, wurde von einem gewissen Richards7 verfasst, der sicherlich kein Dahergelaufener war. Richards und Ogden waren die beiden führenden Köpfe [chefs de file] eine in England begründeten und ganz und gar mit der besten Tradition englischer Philosophie übereinstimmenden Denkhaltung [position], die am Anfang des letzten Jahrhunderts die als logisch-positivistisch bezeichnete Lehre begründet hat.

Ihr Hauptwerk heißt The Meaning of Meaning.8 Sie werde eine Anspielung darauf bereits in meinen Écrits9 finden, mit einer gewissen geringschätzigen Haltung meinerseits. The Meaning of Meaning bedeutet ›Der Sinn des Sinns‹. Der logische Positivismus hat seinen Ausgangspunkt im Anspruch, ein Text habe einen (be-)greifbaren Sinn [sens saisissable], was ihn zu folgender Position bringt – eine gewisse Anzahl philosophischer Aussagen werden in ihren Grundprinzipien aufgrund der Tatsache entwertet, dass sie, was die Untersuchung ihres Sinns betrifft, kein greifbares Ergebnis [résultat saisissable] ergeben. Mit anderen Worten wird ein philosophischer Text, sowie er in flagranti beim Vergehen der Nicht-Sinnhaftigkeit [flagrant délit de non-sens] ertappt wird, hierfür aus dem Spiel genommen. Es ist nur zu klar, dass diese Weise, die Dinge wegzuschneiden [élaguer], kaum noch gestattet, sich zurecht zu finden, denn wenn wir vom Prinzip ausgehen, dass etwas ohne Sinn für die Entwicklung eines Diskurses nicht wesentlich sein kann, verlieren wir ganz einfach den Faden.


Ich sage natürlich nicht, dass ein solcher Anspruch keine Methodik [procédé] sei, doch dass dieses Verfahren [procédé] uns jede Äußerung, deren Sinn nicht verstehbar ist, untersagt, wird zum Beispiel dahin führen, dass wir keinen Gebrauch mehr von mathematischen Diskursen mehr machen können, da diese nach dem Zeugnis der qualifiziertesten Logiker dadurch gekennzeichnet sind, dass wir dem einen oder anderen seiner Punktwerte [points] keinen Sinn zuweisen können, was ihn jedoch gerade nicht daran hindert, von allen Diskursen derjenige zu sein, der sich mit größter [wissenschaftlicher] Strenge entwickelt.

Wir befinden uns deshalb an einem Punkt, der wesentlich ist, um die Funktion der Schrift herauszuarbeiten [mettre en relief].

Also handelt es sich um ku und ebenso um i wei. Ich sagte bereits, dass dieses wei in bestimmten Fällen ›handeln‹ [agir] bedeutet, das heißt, etwas aus der Ordnung von ›machen‹, wenngleich es nicht irgendeins ist. Das Schriftzeichen i hat hier die Bedeutung [sens] von etwas wie ›mit‹ [avec]. Wir werden dieses ›mit‹ als was?, als li vornehmen [procéder], denn es geht um das hier von mir fokussierte Wort. Dieses li, das so viel bedeutet wie Gewinn [gain], Nutzen [intérêt], Erlös [profit], und die Sache ist um so bemerkenswerter, wenn wir uns auf das erste Kapitel beziehen.

Mencius wendet sich dort an einen bestimmten Prinzen, unerheblich an welchen, der Königreiche, in der Folge die ›Streitenden Reiche‹10 genannt. Dieser Prinz erbat von ihm Ratschläge und er merkt an, dass er nicht da sei, um ihn zu unterrichten, wenngleich unser Gesetz dies allen gebietet [présente], sprich, was für den Mehrung des Reichtums des Königreiches – und namentlich für das, was wir Mehrwert [plus-value] nennen wollen – geboten ist. Wenn es einen Sinn gibt, den man li nachträglich geben kann, handelt es sich genau darum.

Und da ist es ziemlich bemerkenswert, festzustellen, dass das, was Mencius bei dieser Gelegenheit notiert, davon handelt, dass es – ausgehend von diesem die Natur ausmachenden Sprechen [parole qui est la nature] oder, wenn Sie so wollen, von dem die Natur betreffenden Sprechen – darum gehen wird, am Ursprung (des Sprechens) [cause]11 anzukommen, insoweit der besagte Ursprung li ist, erh li. Das erh bedeutet sowohl ›und‹ als auch ›aber‹, erh i besagt nur dies, und damit man hieran nicht zweifelt, hat das abschließende i, das ein konklusives i ist, eben jene Akzentuierung eines ›nur‹ [seulement]. Es ist li und das genügt. An dieser Stelle erlaube ich mir im Ganzen gesehen anzuerkennen, dass was die Wirkungen des Diskurses betrifft, was das unter dem Himmel Befindliche betrifft, was daraus hervorgeht, nichts anderes ist, als die Funktion des Ursprungs (des Sprechens) [cause]12, insofern diese das Mehr-Genießen [plus-de-jouir]13 ist.

Ihnen stehen zwei Möglichkeiten zur Verfügung, sich diesem Text von Meng-tzu zu nähern. Entweder Sie besorgen ihn sich in der alles in Allem sehr sehr guten Edition, die durch einen Jesuiten aus dem Ende des XIX. Jahrhunderts, einen gewissen Wieger14, mit den Quatre Livres fondamentaux du confucianisme [Vier Grundlagentexte des Konfuzianismus]15 herausgegeben wurde. Oder Sie verschaffen sich dieses Mencius on the Mind von Richards, das bei Kegan Paul in London erschienen ist. Ich weiß nicht, ob aktuell noch viele, wie man so schön sagt, available16 Exemplare existieren. Schließlich lohnt sich die Mühe dieses Kaufs für jene, die daran interessiert sind, sich auf etwas für eine gesicherte Klärung einer Reflektion über die Sprache so Grundlegendes zu beziehen, die die Arbeit eines Neo-Positivisten und sicherlich nicht unwesentlich ist. Diejenigen, die es richtig finden, sich um den Besitz eines Exemplars zu bemühen, sich aber keine Ausgabe verschaffen können, könnten sich vielleicht eine Photokopie anfertigen lassen. Sie könnten so vielleicht umso besser eine gewisse Anzahl von Bezugnahmen, die ich in diesem Jahr vornehmen und auf die ich zurückkommen werde, verstehen.

Etwas anderes aber ist es, vom Ursprung [origine] der Sprache zu sprechen, und etwas anderes, von ihrer Beziehung zu dem, was ich in Entsprechung zu dem lehre, das ich im letzten Jahr als Diskurs des Analytikers vorgetragen habe.

Es wird Ihnen nicht unbekannt sein, dass die Linguistik mit Humboldt17 anhand der Art von Untersagung begonnen hat, sich die Frage nach dem Ursprung der Sprache zu stellen, da man sich andernfalls verirre. Es ist nicht unwesentlich [que rien], dass jemand inmitten des Zeitalters der genetischen Mystifikation – dies war immerhin der (Denk-)Stil [style] zu Beginn des XIX. Jahrhunderts – als Bedingung setzt [ait posé], dass auf immer nichts betreffs der Sprache (wissenschaftlich) eingeordnet [situé], (gesetzmäßig) begründet [fondé], gesagt [articulé] werden könne, wenn man nicht zuvor damit beginne, die Fragen nach dem Ursprung zu untersagen.18

Es handelt sich um ein (Negativ-)Beispiel [exemple], das man gut an anderer Stelle nachverfolgt hätte, denn dies hätte uns gut und gerne Hirngespinste vom jenem Typ erspart, die man als primitivistisch19 bezeichnen kann. Es gibt nichts Vergleichbares als die Bezugnahme auf das Primitive, um das Denken zu primitivieren.20

Damit regrediert es selbst stets auf eben das Niveau [mesure] dessen, das es als primitiv zu enthüllen vorgibt.




2

Ich muss Ihnen offenbaren, dass Sie ihn letzten Endes nicht gehört haben – der Diskurs des Analytikers ist nichts anderes, als die Logik des Handelns [action].

Sie haben ihn nicht gehört. Warum? Weil das, was ich im letzten Jahr vorgetragen habe, mit diesen kleinen Schriftzeichen an der Tafel, das kleine über und das, was sich auf der Ebene des Analysanten ereignet, nämlich die Funktion des Subjekts als barriertes und in Bezug auf das, was es produziert, die Signifikanten also, und keineswegs irgendwelche, sondern Herrensignifikanten, na, es stand geschrieben [c’était écrit]. Weil es geschrieben wurde, so lala geschrieben, weil ich es wiederholt aufschrieb, deshalb eben haben si es nicht hören können.

Auf diese Weise unterscheidet sich das Geschriebene [écrit] von dem Gesprochenen [parole], und man muss ihm das Sprechen wieder hinzufügen, es damit konsequent – jedoch natürlich nicht ohne elementare Begleiterscheinungen [inconveniants de principe] – schmieren [beurrer sérieusement], damit es hörbar wird. Man kann also eine Menge Dinge schreiben, ohne dass dies irgendein Ohr erreicht. Und dennoch steht es geschrieben. Gerade deshalb habe ich meine Schriften [Écrits] so genannt. Dies hat die empfängliche [sensible] Welt - keineswegs egal wen also – skandalisiert. Es ist sehr bemerkenswert, dass die Person, die dies buchstäblich krampfartig hat zucken [convulser] lassen, eine Japanerin war. Ich werde dies später noch kommentieren. Natürlich hat es hier niemanden zucken [convulsé] lassen, und die Japanerin, von der ich spreche, ist nicht hier. Natürlich hat dies hier(zulande) niemandem Schüttelkrämpfe verursacht, und die Japanerin, von der ich spreche, ist nicht da. Jeder x-beliebige, der aus dieser (Denk-)Tradition [tradition] kommt, wüsste – glaube ich – anlässlich dieser Situation zu begreifen, warum sich die Art von Auflehnung [insurrection] ereignet hat.

Selbstverständlich ist es das Sprechen, das zur Schrift drängt [se fraie la voie vers l’écrit]. Meine Schriften [Écrits], wie ich sie genannt habe, stellen einen Versuch dar, einen Schreibversuch, der – wie dies hiermit hinreichend vermerkt [marqué] wird – zu Graphen21 hinführt. Das Problem ist, dass die Leute, die mich zu kommentieren vorgeben, gleich von den Graphen ausgehen. Sie haben Unrecht, [denn] die Graphen sind nur als Funktion des, sagen wir, kleinsten stilistischen Ertrags [moindre effet de style] dieser Schriften verstehbar, die in gewisser Weise als die Eingangsstufen hierfür fungieren. Leidlich [moyennement] stellt die Schrift, die Schrift als solche allein, ob es sich nun um dieses oder ein anderes Konzept [schéma] – jenes, das L genannt wird, oder irgendeins sonst – handelt, die Gelegenheit aller Arten von Missverständnissen zur Verfügung.

Um ein Sprechen [parole] handelt es sich, insofern es darauf abzielt, zu diesen Graphen zu drängen. Man sollte dieses Sprechen deshalb nicht vergessen, dass sie eben jenes ist, das sich nach den analytischen Regeln reflektiert, das also, wie Sie wissen, darin besteht - Sprechen Sie, sprechen Sie, verbinden Sie [appariez]22, es reicht, dass Sie texten [paroliez]23, das ist die Büchse, der die Gaben [dons] der Sprache entstammen [sortent], das ist die Büchse der Pandora. Welche Beziehung aber zu den Graphen? Diese Graphen – bis zu denen natürlich noch niemand vorgedrungen ist – erklären mitnichten [ne vous indiquent en rien], was auch immer erlaubt, auf den Ursprung der Sprache zurück zu blicken [faire retour à]. Wenn es eine Sache gibt, die dabei sofort erscheint, ist es [die Tatsache], dass sie diesen nicht nur nicht verraten [livrent], sondern dass sie diesen ebenso wenig versprechen.

Es wird sich heute um die Situation in Bezug auf die Wahrheit handeln, die aus dem resultiert, das man freie Assoziation nennt, anders gesagt, um einen freien Gebrauch der Sprache. Wenn, dann habe ich hierüber allezeit nur mit Ironie gesprochen. Es gibt nicht mehr an freier Assoziation, als man eine mit einer mathematischen Formel verknüpfte Variable [variable liée] als frei bezeichnen könnte. Die durch den analytischen Diskurs definierte Funktion ist offensichtlich nicht frei, sie ist eingebunden [liée]. Sie ist durch Voraussetzungen gefesselt [liée], die ich auf die Schnelle als die des analytischen Sprechzimmers [cabinet analytique] bestimmen will.

Wie weit ist mein analytischer Diskurs, so wie er hier durch diese schriftliche Bestimmung [disposition] definiert wird, wie weit ist er vom analytischen Sprechzimmer entfernt? Genau dies konstituiert, was ich als meinen Dissens [dissentiment] mit einer gewissen Anzahl von analytischen Praxen [cabinets analytiques] bezeichne. Entsprechend stimmt für sie diese Definition des analytischen Diskurses – um aufzuzeigen [pointer], wo ich mich befinde – mit den Bedingungen der analytischen Praxis nicht überein. Und doch [or] ist das, was mein Diskurs umreißt [dessine] oder zumindest offenbart [livre], ein Teil der Bedingungen, die meine psychoanalytische Praxis konstituieren. Zu ermessen [mesurer], was man tut, wenn man sich in eine Psychoanalyse begibt, hat ganz sicher [bien] seine Bedeutung und zeigt sich [s’indique], was mich betrifft, in jedem Fall in der Tatsache, dass ich immer mannigfache Vorgespräche führe [procède à de nombreux entretiens préliminaires].

Eine ehrenwerte Person [personne pieuse], die ich ansonsten nicht weiter nennen will, befand, wie es scheint, in Bezug auf die letzten Resonanzen [aux derniers échos], henauer gesagt, Resonanzen von vor drei Monaten, es sei für sie ein unerträgliches Ding der Unmöglichkeit, die Übertragung auf das Subjekt, dem Wissen unterstellt wird [sujet supposé savoir], zu gründen, da die Methode außerdem voraussetzt, das der Analytiker, was den Fall betrifft, in seiner totalen Vorurteilslosigkeit nicht nachlässt. Das Subjekt, dem was also zu wissen unterstellt wird? erlaube ich mir, diese Person zu fragen. Der Psychoanalytiker, soll ihm unterstellt werden, zu wissen was er tut, und weiß er dies tatsächlich?

Davon ausgehend wird verständlich, dass ich meine Fragen über die Übertragung, zum Beispiel in Die Ausrichtung der Kur24, einem Text, über den ich mit Genugtuung feststelle, dass man in meiner Schule mit ihm arbeitet. Es ereignet sich etwas Neues, nämlich dass man in meiner Schule [École] in der Eigenschaft einer Schulung [École] zu arbeiten beginnt. Dieser ziemlich neue Schritt verdient hervorgehoben zu werden. Ich habe nicht ohne Freude feststellen können, dass man durchschaute [qu’on s’était aperçu], dass ich in diesem Text in keiner Weise anschneide, was die Übertragung eigentlich ist. Eben mit dem Sprechen von Subjekt, dem Wissen unterstellt wird, so wie ich es definiere, bleibt die Frage unbeantwortet, zu wissen, ob dem Analytiker unterstellt werden kann zu wissen, was er tut.


szu

Dies ist ein kleines chinesisches Schriftzeichen. Ich bedaure sehr, dass mir die Kreide nicht gestattet, jene Akzente zu setzen, die der Pinsel gestattet. Dies ist eines, das einen Sinn hat, um die Forderungen der logischen Positivisten zu befriedigen, ein Sinn, von dem Sie sehen werden, dass er gänzlich undurchsichtig [ambigu] ist, denn er kann sowohl ›durchtrieben‹ [retors] als auch ›persönlich‹ im Sinne von ›privat‹ bedeuten.25 Und Sinnhaftigkeiten [sens] hat es noch einige weitere. Doch was mir bemerkenswert erscheint, ist seine Schreibweise, die mir sogleich erlauben wird, Ihnen mitzuteilen, wo sich die Terme anordnen, um die herum sich mein heutiger Diskurs drehen wird.

Wenn wir irgendwo, sagen wir oben, das anordnen, das ich im weitesten Sinne als Spracheffekte bezeichne – Sie werden sehen, dass dieser weit  ist, ich muss Ihnen das, scheint mir, nicht betonen –, dann müssten wir hier am Kreuzungspunkt [croisement] das verorten [mettre], wo sie ihren Ursprung haben [prennent leur principe]. Da, wo sie ihren Ursprung haben, darin erweist sich, dass der analytische Diskurs ein Anhaltspunkt [révélateur] für etwas ist, das er – ich habe versucht, daran zu erinnern – ein Schritt ist, obwohl es sich, für die Analyse, um Grundwahrheiten [vérités premières] handelt. Hier hätten wir also auf dem horizontalen Zug [trait] das Ereignis der Schrift [fait de l’écrit].


Es ist in unserer Zeit und unter Berücksichtigung bestimmter Äußerungen, die gemacht wurden und die darauf abzielen, sehr bedauernswerte Verwirrungen [confusions] einzuführen, sehr wesentlich, daran zu erinnern, dass dennoch die Schrift [écrit] nicht vorrangig, sondern im Verhältnis zu jedweder Sprachfunktion [fonction du langage] zweitrangig ist, und dass es nichtsdestoweniger ohne die Schrift in keiner Weise möglich ist, nachzufragen [revenir questionner], was in erster Linie aus der Sprachfunktion als solcher resultiert, anders gesagt, aus der symbolischen Ordnung, nämlich die Dimension26, Sie wissen bereits, um Ihnen einen Gefallen zu tun, habe ich einen anderen Term eingeführt, die ›demansion‹ [›Heimstatt‹], den Sitz [résidence], den Ort des Anderen der Wahrheit.

Ich weiß, dass diese ›demansion‹ [›Heimstatt‹] für einige Fragen aufgeworfen hat, die Resonanzen sind mir zu Ohren gekommen. Naja, wenn ›demansion‹ tatsächlich ein neuer Term ist, den ich fabriziert [fabriqué] habe, und wenn er noch keinerlei Sinn hat, besagt dies, dass es an Ihnen ist, ihm einen zu geben. Die ›demansion‹ [›Heimstatt‹] der Wahrheit in seiner Bleibe [demeure] zu befragen, das ist – da ist die Neuigkeit des von mir heute Eingeführten – etwas, das nur schriftlich möglich ist [ne se fait que par l’écrit], und als Geschriebenes insoweit [par l’écrit en tant que], als sich die Logik nur schriftlich [de l’écrit] konstituieren lässt.

Hier also, was ich an diesem Punkt meines diesjährigen Diskurses einführe – es gibt Fragen der Logik [question logique] nur ausgehend von dem Geschriebenen [l’écrit], insofern die Schrift [l’écrit] eben nicht die Sprache ist. Genau damit habe ich dargelegt [énoncé], dass es keine Metasprache gibt. Insofern sie sich von der Sprache unterscheidet, ist die Schrift [l’écrit] da, um uns zu zeigen, dass – wenn denn sich die Sprache an der Schrift befragt - insofern die Schrift diese nicht per se ›ist‹ [ne l’est pas], sondern sich nur aus ihrem Bezug zur Sprache entwirft [construit], sich nur aus diesem erschafft [fabrique].


3

Nachdem ich dies vorgestellt [posé] habe, was den Vorteil hat, Sie an meine Sicht anzunähern, meinen Entwurf [dessein], gehe ich von etwas aus, das den Punkt betrifft, welcher im Dienste jener Überraschung steht, vermittels derer sich der Umkehreffekt [effet de rebroussement] manifestiert, mit dem ich die Verbindung der Wahrheit mit dem Wissen zu bestimmen gesucht und die ich begrifflich so ausgedrückt [énoncé en ces termes] habe, dass es für das Sprechwesen [être parlant] keine sexuelle Beziehung gibt.

Es gibt eine Grundvoraussetzung [première condition], die uns direkt erkennen lassen kann, dass nämlich die sexuelle Beziehung, wie jede andere Beziehung, nicht über den letzten Term selbst der Schrift weiterbesteht [ne subsiste au dernier terme que de l’écrit].

Das Wesentliche der Beziehung ist eine Anwendung [application], angewendet auf


Wenn Sie es nicht und schreiben, werden Sie die Beziehung nicht als solche erhalten. Das will nicht heißen, dass sich im Realen nicht [doch] etwas ereignet. Aber im Namen von was würden Sie es Beziehung nennen? Diese echt große Sache [chose grosse comme tout] würde bereits reichen, sagen wir, vorstellbar zu werden zu lassen, dass es keine sexuelle Beziehung gibt, würde aber mitnichten die Tatsache aus der Welt schaffen [trancherait], dass man nicht in der Lage ist, sie zu schreiben. Ich werde noch weitergehen und sagen [dirai même plus], dass es etwas gibt, das man schon eine Zeit lang betreibt [fait], nämlich sich beim Schreiben kleiner Planetensymbole [signes planétaires] zu bedienen, um was männlich und was weiblich ist, wie folgt in Beziehung zu setzen –


Ich würde sogar sagen, dass seit einiger Zeit und dank des Fortschritts, den der Gebrauch des Mikroskops erlaubt – denn vergessen wir nicht, dass man vor Swammerdam27 keine Vorstellung davon haben konnte – es so anmuten kann, dass, so meiotisch28 der Prozess auch sein mag, durch den die gonadisch genannten Zellen einen Befruchtungstypus [modèle de la fécondation] ergeben, von dem aus sich die Fortpflanzung vollzieht, es mir so zu sein scheint, dass da in der Tat etwas begründet [fondé], eingerichtet [établi] worden ist, das es gestattet, auf einem bestimmten, als biologisch bezeichneten, Niveau das zu verorten [situer], worum es sich – wie komplex dies auch sein mag – bei der sexuellen Beziehung handelt.

Das gewiss Seltsame – und alles in allem, mein Gott, doch nicht so sehr [seltsam], ich möchte Ihnen aber eine Vorstellung der befremdlichen Dimension der Angelegenheit vermitteln [évoquer] – ist, dass die Dualität und die Selbstgefälligkeit [suffisance] dieser Beziehung schon immer, da wo ich sie Ihnen beim letzten Mal anlässlich der kleinen chinesischen Schriftzeichen in Erinnerung rief [évoqué], ihre Vorlage [modèle] hatten. Es hat mich ganz plötzlich gedrängt [je me suis d’un coup impatienté], Ihnen Schriftzeichen vorzustellen, was den Eindruck machen musste, als sei die nur geschehen, um bei Ihnen Eindruck zu schinden. Hier nun das yin, das ich Ihnen das letzte Mal nicht zeigte, und nochmals hier das yang. Ein kleiner Zug hier.

        

yin                    yang

Das yin und das yang sind als männliche und weibliche Prinzipien kein Sonderfall der chinesischen Tradition, sondern Sie finden Sie in jeder Art Überlegung zu den Beziehungen des Handelns [action] und der Leidenschaft [passion]29, betreffs der Form [formel] und des Inhalts [substance], bezüglich Purusha30, dem Geist, und Pakriti31, ich weiß nicht, welcher verweiblichten Materie [matière femellisée], wieder. Das allgemeine Modell dieser Beziehung von Männlichem zu Weiblichem ist gut und gerne das, was seit jeher, seit langem, die Bestimmung [repérage] der Weltmächte [forces du monde], wie sie t’ien hsia, unter dem Himmel, sind, durch das Sprechwesen beherrscht [hante].



t’ien


hsia

Es ist angebracht, dies – was ich bereits Überraschungseffekt genannt habe – als gänzlich neu zu hervorzuheben [marquer] und zu erfassen, was da – wozu es auch immer gut sein mag [quoi que cela vaille] – dem analytischen Diskurs entstammt [est sorti]. Es ist undenkbar [intenable], es dieser Dualität gegenüber nicht doch bei einer Selbstgefälligkeit bewenden zu lassen [d’en rester d’aucune façon à cette dualité comme suffisante].

Die dem Phallus nachgesagte Funktion – die, offen gesagt, höchst unbeholfen gehandhabt wird, die aber da ist und die innerhalb einer bestimmten Erfahrung funktioniert, die [ihrerseits] nicht ausschließlich mit irgendwas als deviant, pathologisch, zu Beurteilendem verbunden ist, sondern die sich als solche wesentlich für die Institution des analytischen Diskurses erweist – diese Funktion des Phallus macht die sexuelle Bipolarität von nun an unhaltbar [intenable], und zwar auf eine Weise unhaltbar, die das, was sich als diese Beziehung schreibt, sich buchstäblich verflüchtigen lässt.

Man muss unterscheiden, worum es sich bei dieser Intrusion des Phallus handelt, die manche mit dem Term ›Mangel des Signifikanten‹ [manque de signifiant] übersetzen zu können geglaubt haben. Doch es handelt sich nicht um einen Mangel des Signifikanten, sondern um das einer Beziehung entgegengesetzte Hindernis.

Legt man den Akzent auf ein Organ, bezeichnet der Phallus nicht im Geringsten das Penis genannte Organ mit seiner Physiologie noch etwa die Funktion, die man, nun ja, ihm einigermaßen begründet als in der Begattung bestehend zuschreiben kann. Wenn man sich auf analytische Texte bezieht, zielt er auf die am wenigsten widersprüchliche Weise auf eine Beziehung zum Genießen ab. Und darin unterscheidet man ihn von der physiologischen Funktion.

Es gibt – was sich als dasjenige darstellt, das die Funktion des Phallus konstituiert – es gibt ein Genießen, das diese Beziehung als verschieden von der sexuellen Beziehung, als was? konstituiert, als das, was wir ihre Wahrheitsbedingung bestimmen werden [appellerons sa condition de verité].

Der Blickwinkel, unter dem das Organ wahrgenommen wird, mit dem Blick, wie er der Gesamtheit der Lebewesen eigen ist, ist in keiner Weise an dessen besondere Form gebunden. Wenn Sie um die Vielfalt der Begattungsorgane wüssten, wie sie bei den Insekten vorkommt, könnten sie sich wahrlich, ganz gewiss, wundern – Verwunderung ist alles in allem ein Prinzip, das jederzeit gut geeignet ist [est toujours d’un bon usage], um das Reale zu befragen –, dass es speziell so bei den Wirbeltieren funktioniert.

Ich werde hier zügig fortfahren [il faut bien qu’ici j’aille vite], denn ich will nicht noch einmal von vorn beginnen und nichts in die Länge ziehen. Greifen Sie auf den Text zurück [qu’on se reporte au texte], von dem ich vorhin sprach: Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht.32 Der Phallus, das ist das Organ, indem er ist, i.s.t. [en tant qu’il est, e.s.t.] – es handelt sich um das Sein [l’être] –, in der Eigenschaft [en tant qu’il est] des weiblichen Genießens.

Da und darin liegt die Unvereinbarkeit [incompatibilité] des Seins und des Habens. In diesem Text wird dies mit einer gewissen Beharrlichkeit – und indem gewisse stilistische Akzente gesetzt werden, von denen ich wiederhole, dass sie für den [gedanklichen] Weg [cheminer] ebenso wichtig sind wie die Graphen, zu denen sie führen – wiederholt. Und natürlich sah ich mich auf besagtem Kongress in Royaumont33 einigen Leuten gegenüber, die dümmlich kicherten [ricanaient]. Mit einem Wort, dass es sich um das Sein und das Haben handelt, schien für sie – das ist der springende Punkt – keine große Bedeutung zu haben; Sein und Haben, man hat die Wahl [on choisit]. Dies ist immerhin, was man Kastration nennt.

Was ich vorschlage, ist Folgendes. Es geht darum, darauf zu setzen [poser], dass die Sprache – nicht wahr, wir stellen sie da nach oben – das ihr vorbehaltene Feld in der Lücke [béance] der sexuellen Beziehung, so wie sie der Phallus offen lässt, inne hat. Was damit eingeführt wird, sind nicht zwei Terme, die sich als männlich und weiblich definieren, sondern dass es mit der [hier getroffenen] Bestimmung [choix] zwischen den Termen einer Natur und einer gänzlich andersartigen Funktion [fonction bien différente] etwas gibt, das sich Sein und Haben nennt.

Was dies beweist, was dies stützt, was diese Kluft [distance] absolut evident, schlüssig, sein lässt, ist die Ersetzung der sexuellen Beziehung durch das, was sich das sexuelle Gesetz nennt und von dem mir nicht scheint, das man die Differenz bemerkt hätte. Darin besteht die Kluft, in die sich einschreibt, dass es keine Gemeinsamkeit gibt zwischen einerseits, was man von einer Beziehung darlegen kann, die insofern als Gesetz fungiert, als sie – auf welche Weise auch immer – aus einer Anwendung [application] heraus entsteht, welche sie aufs Äußerste an eine mathematische Funktion heranrückt, und andererseits einem Gesetz, das mit dem allgemeinen Register dessen zusammenhängt, was sich Begehren nennt und das sich Verbot nennt. Eben aus der Lücke des sie eingeschriebenen Verbots [la béance même de l’interdiction inscrite] entsteht die Verbindung, sprich, die – wie ich es zu bestimmen gewagt habe – Identität dieses Begehrens mit diesem Gesetz. Entsprechend entspringt alles, was aus dem Spracheffekt entsteht, alles, was den Wahrheitsanspruch einleitet, einer Struktur der Fiktion.

Wenn es sich um die althergebrachte Wechselbeziehung des Rituals und des Mythos geht, wäre es ein lachhaftes Unvermögen [faiblesse ridicule] zu behaupten, der Mythos sei ganz einfach die zu dessen Abstützung, zu seiner Erläuterung verfertigte Kommentierung des Rituals. Gemäß einer Topologie, bei der es sich um jene handelt, auf die ich bereits seit recht langem ein Augenmerk gerichtet habe [fait depuis assez longtemps déjà un sort], sodass ich sie nicht erinnern muss, sind das Ritual und der Mythos wie Vorder- und wie Rückseite [comme l’endroit et comme l’envers] unter der einen Bedingung, dass diese Vorder- und diese Rückseite sich ineinander fortsetzen [soient en continuité]. Was besagt die Beibehaltung dieses Restmythos [mythe résiduel] im analytischen Diskus, [eines Mythos] der sich – Gott weiß warum – Ödipusmythos nennt, der in Wirklichkeit der aus Totem und Tabu34 ist, worin sich der Mythos des alle Frauen genießenden Urvaters als ganz und gar Erfindung Freuds einschreibt? Dies müssen wir von etwas weiter weg, von der Logik, dem Geschriebenen her, hinterfragen.



Das Schema von Peirce

Schon vor ziemlich langer Zeit habe ich hier das Schema von Peirce eingeführt, das die Propositionen, wie sie sich in vier – in allgemeingültige [universelles], spezifische [particulières], bejahende [affirmatives] und verneinende [négatives] – Funktionen teilen, bei denen die beiden Begriffspaare wechseln.

Wenn das Schema von Charles Saunders Peirce35 einen Nutzen [intérêt] hat, dann den aufzuzeigen, dass die Definition jedes x ist y, jedes Etwas ist mit jener Eigenschaft ausgestattet, eine allgemeingültige, vollkommen zulässige Position darstellt, ohne dass es gleichwohl kein x gäbe.

In dem kleinen Schema von Peirce, an das ich erinnere, haben wir hier oben rechts eine gewisse Anzahl vertikaler Striche. Hier links untern haben wir keinen derartigen, sie sind alle horizontal. Hier rechts unten haben wir eine kleine Mischung aus beiden. Schließlich haben wir hier oben links keinerlei Striche. Aus der Überblendung von zwei kombinierten Feldern [chevauchement de deux de ces cases] resultiert die spezifische Besonderheit der einen oder anderen dieser Propositionen. Wenn man die beiden oberen Quadranten zusammenfasst, kann man feststellen – jeder Strich ist vertikal. Wenn er nicht vertikal ist, gibt es keinen Strich. Für die Formulierung der Negation muss man die beiden Quadranten rechts vereinen. Entweder gibt es keinen Strich oder es gibt keinen vertikalen.

Was das Genießens aller Frauen als Mythos ausweist, ist die Tatsache, dass es alle Frauen [toutes les femmes] nicht gibt. Es gibt keine Allgemeinheit [l’universel] der Frau. Damit ergibt sich eine Fragestellung an den Phallus und nicht an die sexuelle Beziehung, was das durch ihn begründete Genießen betrifft, habe ich doch gesagt, dass es sich um das weibliche Genießen handelte.

Ausgehend von diesen Feststellungen ist eine gewisse Anzahl von Fragen als grundlegend verfehlt [radicalement déplacées] zu bewerten.

Alles in allem ist es aber möglich, dass es ein Wissen um das als sexuell bezeichnete Genießen geben könnte, welches der Grundwahrheit dieser bestimmten Frau gleichkäme [soit le fait de cette certaine femme]. Diese Angelegenheit ist nicht undenkbar, denn es gibt dergleichen mythische Spuren in manchen Ecken. Von Dingen wie dem Tantra sagt man, dass es [tatsächlich] praktikabel sei. Dennoch ist aber klar, dass – wenn Sie mir gestatten, meine Gedanken so auszudrücken – seit einiger Zeit die Geschicklichkeit der Flötenspielerinnen offensichtlicher ist. In diesem Punkt spiele ich nicht auf eine Obszönität an, gibt es doch hier, wie ich vermute, wenigstens eine Person, die weiß, was «jouer de la flûte»36 bedeutet.

Diese Person machte mich kürzlich auf dieses Flötenspiel aufmerksam, doch kann man auch über jeden Gebrauch eines Instrumentes sagen, welche Aufspaltung [division] des Körpers der Gebrauch eines Instrumentes – welches auch immer – erforderlich macht. Will sagen: Unterbrechung der Körperkoordination [rupture de synergie]. Dafür reicht das Spiel gleich welchen Instrumentes. Stellen Sie sich auf ein Paar Skier und Sie werden sofort feststellen, dass das Zusammenspiel [Ihrer Körperkoordination] unterbrochen wird [que vos synergies doivent être rompus]. Nehmen Sie einen Golfschläger, wie mir das in letzter Zeit, weil ich wieder [damit] angefangen habe, unterläuft, da ist es genauso. Es gibt zwei Arten von Bewegungen, die zur selben Zeit ausgeführt werden müssen, was Ihnen anfangs absolut nicht gelingen wird, weil sich dies gleichsinnig zusammenwirkend [synergiquement] nicht erreichen lässt. Die Person, die mich an die Angelegenheit hinsichtlich der Flöte erinnert hat, machte mich gleichermaßen darauf aufmerksam, dass es, was den Gesang betrifft, offensichtlich kein Instrument gibt – diesbezüglich ist der Gesang besonders interessant –, auch hier müssen Sie Ihren Körper aufspalten, müssen Sie zwei gänzlich unterschiedliche Aspekte [choses] aufspalten, die doch normalerweise absolut zusammenspielen [sont absolument synergiques], nämlich der Einsatz der Stimme [pose de la voix] und die Atmung.

Gut. Diese ersten Wahrheiten, die mir nicht in Erinnerung gebracht werden müssen – wo ich Ihnen doch schon sagte, dass ich diesbezüglich eine kürzliche Erfahrung mit dem Golfschläger machte –, lassen als Fragestellung offen, ob es irgendwo noch ein Wissen um das Instrument ›Phallus‹ gibt.

Allerdings ist das Instrument ›Phallus‹ kein Instrument wie andere. Es ist wie beim Gesang, das Instrument ›Phallus‹, ich sagte es bereits, darf in keiner Weise mit dem Penis verwechselt werden. Er, der Penis, reguliert sich über das Gesetz, das heißt, über das Begehren, das heißt, über das Mehr-Genießen, das heißt, über den Grund [cause] des Begehrens, das heißt, über das Fantasma. Und da wüsste das der Frau unterstellte Wissen um einen Knochen, eben jenen, der dem Organ fehlt, wenn Sie mir mit derselben Denkfigur [dans la même veine] fortzufahren gestatten, denn bei gewissen Tieren gibt es da einen Knochen. Oh ja. Es gibt da eine Lücke [manque], durch einen fehlenden Knochen [os manquant]. Es geht nicht um den Phallus, es geht um das Begehren und sein Funktionieren. Hieraus resultiert, dass die Frau einen Beweis ihrer Integration in das Gesetz, dessen was die Beziehung ersetzt [ce qui supplée au rapport], nur über das Begehren des Mannes hat.

Um hierüber Gewissheit zu erlangen, reicht es, eine kleine analytische Erfahrung zu machen. Das Begehren des Mannes, ich sagte es schon, ist mit seinem Grund [cause] verbunden, der im Mehr-Genießen besteht. Oder mehr noch, wie ich bereits vielfach vortrug, nimmt er seinen Ursprung [source] in dem Bereich [champ], von dem alles – ganz Sprachwirkung – ausgeht, im Begehren des Anderen also. Bei dieser Gelegenheit wird sich die Frau bewusst, dass sie dieser Andere ist. Allerdings ist sie der Andere einer gänzlich anderen Instanz [ressort], eines gänzlich anderen Registers als ihr Wissen, worin dieses auch immer bestehen mag.

Damit wird also das phallische Instrument, in Anführungsstrichen, als Grund [cause] – ich sagte nicht Ursache [origine] – der Sprache gesetzt. Und da werde ich, trotz der fortgeschrittenen Stunde, mein Gott, ich werde mich beeilen, die Spur nachzeichnen, die davon durch das – ob man will oder nicht [quoi qu’on veuille] – Fortbestehen eines über die obszönen Worte verhängten Verbots zur Verfügung steht.

Ich weiß, dass es Leute gibt, die von mir das erwarten, was ich ihnen versprochen habe, nämlich auf Eden, Eden, Eden37 anzuspielen und zu erläutern, warum ich nicht – wie nennt man das? – diese Dings [machins], diese Petitionen zu diesem Thema unterschreibe.

Es handelt sich gewiss nicht darum, dass meine Wertschätzung für diesen Vorstoß [tentative] gering wäre. Auf ihre Weise ist er vergleichbar mit meinen Schriften [Écrits]. Abgesehen davon, dass er viel verzweifelter ist. Es ist bedeutend [tout à fait] verzweifelter, das phallische Instrument zu versprachlichen [langagier].38 Aus diesem Grunde beurteile ich es in dieser Hinsicht als aussichtslos [sans espoir] und denke ich auch, dass sich um einen solchen Vorstoß [tentative] nur Missverständnisse entwickeln können.

Sie sehen, dass sich meine Ablehnung [refus] dieser Angelegenheit aus einem höchst theoretischen Gesichtspunkt [point] ergibt.


4

Auf was ich hinaus will, ist Folgendes – von wo aus befragt man die Wahrheit?

Denn die Wahrheit vermag alles zu sagen, was sie will. Das ist die Weissagung [oracle]. Sie existiert seit jeher und anschließend muss man nur noch sich zu helfen wissen [se débrouiller].

Allerdings gibt es ein neues Faktum [fait], nicht wahr? Die erste neue Tatsache seitdem das Orakel wirkt [fonctionne], das heißt seit Anbeginn [depuis toujours], ist eine meiner Schriften, die sich Das Freudsche Ding39 nennt, in der ich das aufgezeigt [indiqué] habe, was noch nie jemand formuliert [dit] hatte, ha! [hein!] Da dies, zugegeben, schriftlich statt hat [est écrit], haben Sie es natürlich nicht hören können. Ich habe gesagt, dass die Wahrheit ›Ich‹ [Je] sagt.

Wenn Sie dieser Art polemischer Fülle [luxuriance polémique], ihr Gewicht verliehen haben, die ich zur Darstellung der Wahrheit so verfasst [faite] habe – ich weiß nicht einmal mehr, was ich geschrieben habe –, als wenn ich mit einem [ohrenbetäubenden] Zersplittern des Spiegels [fracas de miroir] ins Zimmer zurückkehre, hätte Ihnen dies die Ohren öffnen können. Das Geräusch zersplitternder Spiegel im Geschriebenen [dans un écrit], das beeindruckt Sie mitnichten [vous frappe pas]. Gleichwohl ist es recht gut beschrieben, denn darin liegt, was man einen stilistischen Effekt nennt. Dies hätte Ihnen sicherlich geholfen zu verstehen, was das besagt: die Wahrheit sagt ›Ich‹ [la vérité parle Je].

Es bedeutet, das man zu ihr ›Du‹ sagen kann, und ich werde Ihnen erläutern, wozu dies dienlich ist.

Sie werden natürlich annehmen, ich würde Ihnen mitteilen, dass es den Dialog fördert [sert à]. Ich habe schon lange gesagt, dass es das nicht gibt, einen Dialog. Und hinsichtlich der Wahrheit selbstverständlich noch weniger. Nichtsdestotrotz, wenn Sie etwas lesen, das sich die Metamathematik von Lorenzen40 nennt – ich habe es mitgebracht, es ist bei Gauthier-Villars und Mouton erschienen, und ich werde Ihnen sogar die Seite angeben, auf der Sie raffinierte Dinge [choses astucieuses] sehen können –, Sie werden darin Dialoge, geschriebene Dialoge, vorfinden, das heißt, es ist ein und derselbe, der beide Gegenreden [répliques] verfasst. Es handelt sich um einen recht speziellen Dialog, doch ist dies sehr lehrreich [instructif]. Sie sollten die Seite 22 aufsuchen. Diese ist sehr informativ, und ich könnte sie auf mehr als eine Weise übersetzen, einschließlich der Verwendung meines Seins und meines Habens von vorhin.

Doch ich werde Ihnen lediglich jene Angelegenheit, die ich bereits besonders hervorhob, in Erinnerung rufen, nämlich dass keine der sogenannten Paradoxien, mit denen sich die klassische Logik aufhält, namentlich die des ›Ich lüge‹, nur ab dem Augenblick standhält [tient], in dem es aufgeschrieben wird.

Es ist vollkommen klar, dass ›Ich lüge‹ zu sagen eine Angelegenheit ist, die kein Schwierigkeit [obstacle] darstellt, vorausgesetzt man tut nur dies, warum sollte man es dann nicht sagen? Was will dies besagen? Dass es lediglich dann, wenn es geschrieben steht, ein Paradox gibt, denn man sagt sehr wohl ›Na, lügen Sie oder sagen Sie die Wahrheit?‹. Dies ist genau dasselbe, auf das ich Sie seinerzeit, als ich Sie aufforderte, die kleinste Zahl aufzuschreiben, die sich mit mehr als fünfzehn Worten schreibt, aufmerksam machte. Sie sehen darin keinerlei Schwierigkeit [obstacle]. Wenn es geschrieben wurde, zählen Sie die Worte, und Sie werden feststellen, dass es in dem, was ich sagte, lediglich dreizehn gibt. Doch dies lässt sich nur abzählen, wenn es geschrieben wurde.

Wenn es auf Japanisch geschrieben wird, wette ich, dass Sie sie nicht zählen können, denn da stellt sich Ihnen immerhin die Frage [der Definition] des Wortes [question du mot]. Es gibt kleine Endungen [bouts], einfach so, ein Seufzen [des vagissements], ein kleines o und kleine oua, von denen Sie sich fragen, ob man sie zum Wort zählen [coller au mot] soll oder ob man sie abkoppeln [détacher] und als [eigenes] Wort zählen muss. Doch es ist nicht einmal ein Wort, es ist [ein] ›he!‹ [eh!]. In etwa so [C’est comme ça]. Nur wenn es geschrieben wird, ist es berechenbar.

Was die Wahrheit betrifft, werden Sie feststellen, dass Sie, genau wie in der Metamathematik von Lorenzen, mit der Setzung, dass man nicht zugleich ›Ja‹ und ›Nein‹ über denselben [Diskussions-]Punkt [point] sagen kann, einen Volltreffer landen werden [là vous gagnez]. Gleich werden Sie sehen, was Sie gewinnen werden. Doch wenn Sie darauf setzen, dass es ›Ja‹ oder ›Nein‹ sein wird, dann verlieren Sie. Halten Sie sich [ruhig] an Lorenzen, ich werde es Ihnen sofort darlegen.

Ich stelle zur Verfügung [pose] – ›Es ist nicht wahr‹, sage ich zur Wahrheit, ›dass Du zur selben Zeit die Wahrheit sagst und lügst‹. Dass das Unbewusste immer die Wahrheit sagt und dass es lügt, das ist bei ihm vollkommen akzeptabel [soutenable]. Es ist lediglich an Ihnen, dies zu wissen. Was lehrt es Sie? Dass man von der Wahrheit nur etwas weiß, wenn sie sich entfesselt [déchaîne]. Da hat sie sich entfesselt, hat sie Ihre Fesseln durchtrennt [brisé votre chaîne], hat sie Ihnen beide Dinge gleichermaßen mitgeteilt, als Sie sagten, dass die Verbindung [conjonction] nicht haltbar [soutenable] ist.

Doch stellen Sie sich das Gegenteil vor, dass Sie ihm gesagt hätten ›Entweder sagst Du die Wahrheit oder Du lügst‹. Da haben Sie sich vergeblich gemüht. Was antwortet sie Ihnen? ›Ich stimme Dir zu, ich entfessele mich. Tu sagst mir – Entweder sagst Du die Wahrheit oder Du lügst – und in der Tat ist das sehr wohl wahr‹. Nur, ja dann, dann wissen sie nichts, nichts von dem, was sie Ihnen sagte, denn entweder sagt sie die Wahrheit oder sie lügt – sodass Sie dabei der Verlierer sind [êtes perdant].

Ich weiß nicht, ob Ihnen dies in seiner Stichhaltigkeit bewusst wird, doch bedeutet dies etwas, von dem wir ständig unsere Erfahrungen machen. Dass sich die Wahrheit verweigert [se refuse], das verhilft mir schon zu etwas. Gerade damit haben wir die ganze Zeit in der Analyse zu tun. Dass sie sich freien Lauf lässt [s’abandonne], dass sie die Fessel akzeptiert, welche sie auch sei, na gut, das kann einen schon kirre machen [j’y perd mon latin]. Anders gesagt, lässt es für mich zu wünschen übrig [ça me laisse à désirer]. Das lässt mich wünschen [me laisse à désirer], und das belässt mich in meiner Position des Nachfragenden [position de demandeur], wenn ich mich anzunehmen verleiten lasse [me trompe de penser], dass ich über eine Wahrheit sprechen [traiter de] kann, die ich nur als entfesselte zu erkennen vermag. Sie führen [gerade] vor [montrez], an welcher ›Entmül-lung‹ [déchet-nement]41 sie teilnehmen.

Es gibt etwas, das in diesem Zusammenhang hervorzuheben verdient, dies ist die Funktion von etwas, das ich schon lange ganz sachte auf die Anklagebank bringe [mets tout doucement sur la sellette] und das sich ›Freiheit‹ nennt. Sie entsteht [arrive] nur durch das Fantasma und es gibt welche, die [dieses Hirngespinst] auf unterschiedliche Weise fantasieren [élucubrent de certaines façons], wodurch, wenn schon nicht die Wahrheit als solche, so doch wenigstens der Phallus – gebändigt [apprivoisé] würde. Ich werde Ihnen nicht [näher] erläutern [dire], in welcher Detailvielfalt diese Arten von Hirngespinst sich entfalten können. Doch gibt es da eine ins Auge springende Sache. Abgesehen von einer gewissen Art des Mangels an Seriosität, die vielleicht das ausmacht, was es an überzeugendster [plus solide] Definition der Perversion gibt, nun ja, diese nachvollziehbaren Lösungen, es ist klar, dass die Personen, für die diese ganze Nebensächlichkeit [menue affaire] eine ernste Angelegenheit ist,

    – denn, mein Gott, die Sprache, die zählt für sich, und auch das Schriftliche [l’écrit], und sei es nur, weil es die logische Hinterfragung [interrogation] gestattet, weil, was ist letzten Endes die Logik? Wenn nicht dieses absolut fantastische [fabuleux] Paradoxon, dass es nur das Geschriebene [l’écrit] erlaubt, die Wahrheit als Bezugsrahmen [référent] auszuersehen [prendre]. Natürlich kommuniziert man hierüber, wenn man sich anschickt, die allerersten Formeln der Propositionenlogik anzugeben. Man nimmt als Bezugspunkt [référent], das es Propositionen gibt, die sich durch das Wahre markieren lassen, und andere, die sich durch das Falsche markieren lassen. Genau hiermit beginnt die Bezugnahme [référence] auf die Wahrheit. Sich auf die Wahrheit zu beziehen heißt, das Falsche absolut zu setzen, das heißt ein Falsches, auf das man sich als solches beziehen könnte. Ich greife wieder auf, was ich gerade ausführte –

die ernst zu nehmenden Personen, denen sich diese nachvollziehbaren Lösungen anbieten, die vom Phallus gebändigt würden, nun ja, seltsamerweise sind soe es, die sich verweigern. Und warum? wenn nicht, um nicht das zu schützen [préserver], was sich ›Freiheit‹ nennt, insoweit sie genau identisch mit der Nicht-Existenz der sexuellen Beziehung ist.

Ist es noch erforderlich zu erklären [indiquer], dass die Beziehung des Mannes und der Frau, insofern sie durch das Gesetz, das sogenannte sexuelle Gesetz, grundlegend verfälscht [radicalement faussé] wird, dennoch zu wünschen übrig lässt, dass es für jeden [chacun] seine ihm entsprechende jede [chacune] gibt? Wenn dies geschieht, was soll man dazu sagen? Sicherlich nicht, dass es sich da um eine natürliche Angelegenheit handelt, denn es gibt in dieser Beziehung keine Natur, da es Die Frau nicht gibt [La femme n’existe pas]. Dass sie existiert, das ist ein Traum von Frauen [rêve de femme], und das ist der Traum, aus dem Don Juan entsprungen [sorti] ist. Wenn es einen Mann gäbe, für den Die Frau [La femme] existiert, wäre dies ein Wunde, man wäre sich seines Begehrens gewiss. Es handelt sich um ein weibliches Hirngespinst [élucubration féminine]. Damit ein Mann seine Frau findet, was anderes? wenn nicht die romantische Formel – es wäre verhängnisvoll, stände es geschrieben [c’était fatal, c’était écrit].

Damit kommen wir erneut an dieser Drehscheibe [carrefour] an, von der ich Ihnen gesagt habe, dass ich, was es an wahrem Herrn [seigneur], an ein klein wenig außergewöhnlichem Typ gibt und den man, naja, nicht besonders glücklich durch ›der Mann‹ [l’homme] entziffert [traduit], umkippen lassen würde [ferais basculer].

        

hsing                  ming

Diese Wippe vollzieht sich zwischen dem hsing, der Natur als solcher, durch die Sprachwirkung, die der Disjunktion42 von Mann und Frau eingeschrieben ist, und andererseits dem ›es steht geschrieben‹, diesem ming, diesem anderen Schriftzeichen, dessen Form ich Ihnen schon einmal gezeigt habe und vor dem die Freiheit zurückweicht.


 

L’écrit et la vérité

Jacques Lacan


Die Schrift und die Wahrheit

Übersetzung : Ulrich Kobbé

Mit dieser deutschsprachigen Übersetzung der Vorlesung vom 17.02.1971 (Lacan, 1971c) wird der Versuch gemacht, den Text aus dem französischen Original ›adäquat‹ zu übertragen. Dies mit dem Bestreben, einerseits den für Lacan charakteristischen hermetischen Duktus einschließlich der Charakteristika des gesprochenen Wortes zu wahren, andererseits aber auch die Komposition von Form und Inhalt zu garantieren. Dem gegenüber nimmt jede Übersetzung – wie Derrida1 anmerkt – auch einen Bezug zwischen ›Setzung‹ als Setzen einer Setzung und ›Über-Setzung‹ im Sinne von Hinüber- und Darüber-Setzen, Darüber-Hinausgehen und Über-die-Setzung-Hinausgehen vor. Sie ist immer auch Interpretation. Dies einerseits in Entfernung vom wortwörtlichen Text, andererseits im Bestreben, gerade hierdurch dessen Sinn – quasi textgetreu – zu erfassen und ›stimmige‹ Lesarten anzubieten. Insofern geht es mit Turnheim2 nicht darum, Lacan – im französisch-deutschen Übersetzen – ›richtig‹ zu lesen, »sondern darum, was es heißen könnte, Lacan jenseits eines Bezugs auf dasjenige, was seine eigenen Intentionen gewesen sein sollen, zu lesen«.

Eingebettet in ein eigenes Arbeitprojekt zu Parallaxen von Zen und (lacanianischer) Psychoanalyse erfolgte der Zugang von der Zen-Praxis her, mithin sich schleifenartig aus einer psychoanalytisch fundierten Theorie und Praxis über den Exkurs in Zen-Praxen auf Lacans Textur zu(rück) bewegend. Auch dies hat die in der Übertragung enthaltene Sorge um den Text und die hierin akzentuierte Lesart zwangsläufig mit beeinflusst.

1 Derrida (1988) 13-15.

2 Turnheim (1999) 95, Fn 217.


















3 孟子 Mèngzǐ / Mong Dsï, latinisiert Mencius oder Menzius, ~379 v. Chr. – ~290 v. Chr., chin. Philosoph, war ein bedeutender Nachfolger des Konfuzius, von dessen Lehre er die Fürsten der chinesischen Reiche als Staatsphilosophie zu überzeugen suchte.

4 Aesop, grch. Αἴσωπος (Aísōpos), ~ 6. Jahrh. v. Chr., antiker griechischer Dichter, dessen Fabeldichtkunst diese Literaturgattung für Europa begründete.







5 Voltaire (1751).

6 Kapitel XXXIX. Disputes sur les cérémonies chinoises. Comment ces querelles contribuèrent à faire proscrire le christianisme à la Chine. [Streit über die chinesischen Rituale. Wie diese Zwistigkeiten dazu beitragen, das Christentum aus China zu verbannen.]






























































7 Richards (1932).



8 Richards & Ogden (1946).

9 Lacan (1957; 1975a).


























10 Die sog. ›Streitenden Reiche‹ kämpften in der Zeit zwischen 475 v. Chr. und 221 v. Chr. gegeneinander. Es handelt sich um die Großmächte Chu , Han (Hanguo) 韓國, Qi (Qi Guo) 齊國, Qin , Wei , Yan und Zhao , deren Auseinandersetzung mit dem Gewinn von und der Vereinigung mit Qin als dem ersten chinesischen Kaiserreich beendet wurde.

11 Insofern »cause« nicht nur ›Ursache‹, ›Grund‹, ›Ursprung‹, sondern »causer« auch ›reden‹, ›sprechen‹, ›sich unterhalten‹ bedeutet, klingt auch in der Formulierung an, dass es sich um den Ursprung des Sprechens handelt.

12 Siehe vorherige Anmerkung.

13 Mit dieser terminologischen Allusion auf den bereits eingeführten Mehrwert-Begriff [plus-value] offenbart Lacan im Neologismus Mehr-Genießen [plus-de-jouir] – als Referenz auf Marx – ein ›materialistisches‹ Verständnis des Triebgeschehens; vgl. die Revu de Psychanalyse ›Savoir et clinique‹ (2013), nº 16 ›Jacques Lacan, matérialiste‹.

14 Léon Wieger, 09.07.1856 - 25.03.1933, franz. Jesuit, Mediziner, Sinologe und Missionar in China

15 Die vier Bände wurden von Séraphin Couvreur, 14.01.1835 - 19.11.1919, franz. Jesuit, Sinologe und Missionar in China, verfasst. Sie enthalten in Band 3 die Lehrgespräche des Konfuzius (lunyu 論語), als Band 4 die Mencius-Texte; die Bände stehen  elektronisch unter www.http://classiques.uqac.ca/classiques/chine_ancienne/auteurs_chinois.html zur Verfügung.

16 Lacan ironisiert hier die modische Verwendung englischer Begriffe im Französischen: „available“ = verfügbar, erhältlich, vorhanden, vorrätig.

17 Wilhelm von Humboldt (eigentl. Friedrich Wilhelm Christian Carl Ferdinand von Humboldt), 22.06.1767 – 08.04.1835, deutscher Gelehrter, Staatsmann, Mitgründer – und Namensgeber – der Humboldt-Universität zu Berlin (ursprüngl. Berliner Universität) sowie Begründer der vergleichenden Sprachforschung und -wissenschaft.

18 Lacan bezieht sich vermutlich auf Humboldts Arbeit von 1836 (posthum) Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts.

19 »primitiviste« [primitivistisch] = umgangssprachlicher Begriff für eine geistig-kulturell anspruchslose, niveaulose Tendenz einer naiven, vereinfachenden Darstellung sog. ›primitiver‹ Kulturen.

20 »primitiver« [primitivieren] = in unzulässiger Weise vereinfachen, vereinfacht darstellen bzw. entstellen.















21 ›Graph‹ (linguistischer Begriff), von griech. γραφή graphē [Schrift], entspricht der kleinsten analysierbaren graphischen Einheit eines sprachunabhängigen / -übergreifenden Schriftensystems oder eines schriftähnlichen Zeichensystems.


22 »apparier« = paaren (synonym: ver-/binden, trauen, löten, sammeln, heranziehen, treiben).

23 »parolier« = Texter, Textdichter; Lacan modifiziert dieses Substantiv zu einem Verb, das sinngemäß als ›texten‹, ggf. als ›verdicht/text/en‹, zu verstehen wäre.























24 Lacan (1958b), 585-645.









25 Das von Lacan als szu bezeichnetes Kanji wird unter den zugelassenen Joyo Kanji (Hadamitzky, 1995) demgegenüber als Radikal 28 mit der chinesischen Lesung si (Flecher, 2008, 8) bzw. mou und der japanischen on-Lesung : shi  bzw. kun-Lesung : mu  verzeichnet.














26 lies auch: »dit-mension« = ›Sprach-Maß‹ (Lacan 1972d, 31; 1975b), die dem Zeichen gegebene Sinn-Struktur (Lacan, 1973c, 3; 1980), oder »mension du dit« = ›Sprach-Lüge‹ (Lacan, 1973b, 137; 1976c, 153) oder »dit-mension …, mention« = »der Ort, worauf das Sprechen stützt / beruht« (Lacan, 1976a) oder »dit-mention« = ›Sprach-Täuschung‹ (Lacan, 1972a, 24) oder »demansion« (Lacan, 1971a, 64) bzw. »dit-mansion« = ›Sprach-Heimstatt‹ (Lacan, 1971b, 120).


























27 Jan Swammerdam, 12.02.1637 - 17.02.1680, niederländ. Naturforscher, beschrieb 1658 als erster die per Mikroskop entdeckten roten Blutkörperchen.

28 Der Terminus technicus ›Meiose‹ bezeichnet eine Reife- oder Reduktionsteilung als besondere Form der Zellkernteilung, bei der im Unterschied zur gewöhnlichen Kernteilung (Mitose) die Zahl der Chromosomen halbiert wird.




29 Hinweis: In den lacan’schen Begriffswahlen »action« und »passion« schwingen zugleich Komplementaritäten von ›aktiv‹ und ›passiv‹ mit.

30 Purusha, Sanskrit पुरुष (puruṣa), männl., mit den Bedeutungen: Mann, Mensch, Menschheit, Person, Urseele. Zentralbegriff der indischen Mythologie und Philosophie. In dieser Kosmologie wird Purusha (Geist, Mensch) als Urmensch, aus dessen Körper in einem Selbstopfer die Welt hervorkommt, mit Pankriti (Natur, Urmaterie) kontrastiert.

31 Prakriti, Sanskrit प्रकृति (prakṛti), weibl., mit den Bedeutungen: Natur, Urstoff, Ursubstanz, Urmaterie. Im Kontext mit Purusha (s. o,.) ist Pakriti eine kosmische Urmaterie, aus der das Universum besteht; sie ist die ursprüngliche, eine nicht-verursachte Ursache, als solche formlos, grenzenlos, unbeweglich, ewig und alldurchdringend. Die Prakriti gibt es in zwei Zuständen – in ›nicht-entfaltetem‹ (nicht-manifestiertem) und in ›entfaltetem‹ (manifestiertem) Zustand – mit drei Grundeigenschaften: Trägheit, Dunkelheit, Chaos, Rastlosigkeit, Bewegung, Energie, Gleichgewicht, Harmonie, Frohsinn.





















32 Lacan (1958b), 585-645.






33 10.-13.07.1958, siehe Lacan (1958b).























34 Freud (1912/13).













35 Charles Sanders Peirce, 10.09.1839 - 19.04.1914, amerikanischer Mathematiker, Philosoph und Logiker, Begründer der Semiotik und Erfinder der existentiellen Graphen in der Propositionenlogik (Aussagenlogik).















36 »jouer de la flûte« = (umgangssprachl.) ›Fellatio ausüben‹, jemandem ›einen blasen‹; aber auch »jouer des flûtes« = (umgangssprachl.) ›abhauen‹.

































37 Lacan bezieht sich auf die Buchveröffentlichung ›Eden, Eden, Eden‹ von Pierre Guyotat (1971/1985; 2013). Die heute zu den Klassikern moderner avantgardistischer Literatur zählende Novelle über alltägliche Gewalt, Obszönität, Prostitution, Perversion, Entwürdigung (Fock, 2013) enthielt zwar ein Vorwort von Leiris (2013, 25), Foucault (2013, 26), Barthes (2013, 27) & Sollers, wurde aber auf den Publikations- und Verkaufsindex gesetzt. Eine internationale Petition, um die es in Lacans Äußerungen hier geht, wurde u. a. von de Beauvoir, Ernst, Genet, Monod, Pasolini, Sarraute, Sartre & Mitterrand gezeichnet, war jedoch nicht erfolgreich.

38 Lacan verwendet hier das Adjektiv »langagier, ière« [sprachlich] als Verb, was sinngemäß – und kontextstimmig – ungefähr mit ›versprachlichen‹ zu übersetzen ist.

39 Lacan (1956; 2005a).









40 Lorenzen (1962; 1967).

41 »déchet-nement« = Neologismus Lacans aus »déchets« [Abfall, Müll, Schrott] als Homophon zu »déchaînement« [Entfesselung], sodass sich mit ›Entmül-lung‹ eine versuchsweise Übertragung ins Deutsche wagen lässt.









































































42 Disjunktion [disjonction] = Trennungsbeziehung einander ausschließender, aber zugleich eine Einheit herstellender Elemente

Stand:

06.05.2013


Übersetzung:

Dr. Ulrich Kobbé

iwifo-Institut, Postfach 30 01 25, D-59543 Lippstadt

e-mail: ulrich.kobbe@iwifo-institut.de

TéléchargementLacan-Kobbe_05_files/Lacan_Kobe%20Die%20Schrift%20und%20die%20Wahrheit.pdf

Deutsch
SchriftenDe_00.html

AppendixLacan-Kobbe_05bis.html