Mann und Frau

(4) Die Heiligkeit, von Gracián zu Menzius




Wir sprechen hier von Wahrheiten, die im Laufe der Jahrhunderte schon seit langem vollkommen erforscht wurden, die jedoch, wenn ich so sagen darf, nie anders als von Mund zu Mund mitgeteilt wurden.

Gewiss – eine ganze Literaturgattung wurde zu diesem Thema entwickelt und es käme darauf an, seine Reichweite lernen zu lernen. Natürlich ist dies nur dann von Interesse, wenn man die beste verwendet.

Jeman, dem sich eines Tages jemand zuwenden sollte, ist zum Beispiel Baltasar Gracián [1] , der als bedeutender Jesuit in seinen Schriften einige der intelligentesten Dinge behandelt hat, die man niederschreiben kann.

Ihr geistiger Gehalt [intelligence] ist darin absolut genial [pridigieuse], wobei es sich für ihn einzig darum handelt, das auszuarbeiten [établir], was man als Heiligeit des Menschen bezeichnen kann. Sein Buch Handorakel und Kunst der Weltklugheit [2] lässt sich in einem Wort zusammenfassen: [3] ein Heiliger sein. Dies hier ist die einzige Stelle der westlichen Zivilisation, an der das Wort heilig dieselbe Bedeutung hat wie im Chinesischen, tchen-tchen. [4]

Notieren Sie sich diesen Punkt, denn es ist immerhin spät geworden, sodass ich diese Referenz heute nicht mehr erarbeiten werde. Ich werde in diesem Jahr einige kleinere Bezugnahmen auf Grundlagen [origines] des chinesischen Denkens vornehmen.

Ich bin mir einer Sache bewusst geworden, nämlich dass ich vielleicht nur deshalb lacanianisch bin, weil ich mich einst mit Chinesisch beschäftigt habe. Ich möchte damit sagen, dass mir jetzt bewusst geworden ist, dass das, was ich überflogen, wie ein Einfaltspinsel mit Eselsohren stockend gelesen habe, gleichen Ursprungs / gleichsinnig [plain-pied] mit dem ist, was er selbst vortrage.

L’homme et la femme

(4) La sainteté, de Gracián à Mencius

Jacques Lacan


Mann und Frau

(4) Die Heiligkeit, von Gracián zu Menzius

Übersetzung : Ulrich Kobbé

Die Vorlesung »L’homme et la femme« [Mann und Frau] vom 20.01.1971, veröffentlicht im XVIII Seminar (Lacan, 2006a, 23-37), wurde bislang nicht in deutscher Übersetzung publiziert. Die anschließende Übersetzung des 4. Abschnitts »La sainteté, de Gracián à Mencius« [Die Heiligkeit, von Gracián zu Menzius] dieser Vorlesung (Lacan, 2006a, 36-37) stellt eine erste vorläufige und private Übertragung des Verfassers (UK) aus dem Französischen mit ggf. erforderlichen Orientierungs- und Verständnishilfen zur Verfügung, die anlässlich einer Recherche zu sinojapanischen Referenzen Lacans für den persönlichen Gebrauch erstellt wurde. Bei ungewöhnlichen Termini, mehrdeutigen Begriffen und ins Deutsche nicht übersetzbaren, lediglich adaptationsfähigen Neologismen wird der französische Originaltext in eckigen Klammern [ ] als nachprüfbare Zitation angegeben.

Konkret impliziert dies, dass es ihm keineswegs lediglich um ein Lesen und Anwenden [pratiquer] taoistischer Texte gehe, sondern speziell um »das, was das Beste am Buddhismus« sei, um »Zen, und das Zen, es besteht darin – Dir, mein Freund, mit einem Bellen zu erwidern« (Lacan 1973, 146).

[1] Baltasar Gracián y Morales S.J. (08.01.1601 – 06.12.1658) war nicht nur Jesuit, sondern zugleich Hochschullehrer und Schriftsteller.


[2] dem Werk ›Oráculo manual y arte de prudencia‹ (1647), deutsch Handorakel und Kunst der Weltklugheit‹, handelt es sich um eine Aphorismensammlung mit 300 Sentenzen zur Lebenskunst einer taktisch klugen Lebensführung. Online-Publ.: http://www.handorakel.de/; Hörbuch: http://librivox.org/handorakel-und-kunst-der-weltklugheit-by-b-gracian/


[3] Im publizierten Text steht als wörtliche Mitschrift »deux points« [zwei Punkte, Doppelpunkt]; im unautorisierten Transkript (Lacan, 2006b, 15) findet sich dies zweifach – wörtlich [deux points] und als Satzzeichen [:] –


[4] 神圣 shén shèng : heilig.

Stand:

08.05.2012


Übersetzung:

Dr. Ulrich Kobbé

iwifo-Institut, Postfach 30 01 25, D-59543 Lippstadt

e-mail: ulrich.kobbe@iwifo-institut.de

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Hier ein Beispiel aus dem Menzius, das eines der grundlegenden, kanonischen Bücher des chinesischen Denkens ist. Es gibt da einen Typ, der sein Schüler ist und der so Dinge sagt wie ›Was Ihr nicht im Bereich des yen – es handelt sich um den Diskurs – findet, solltet Ihr nicht im Bereich Eures Geistes [esprit] suchen‹. Mit ›Geist‹ übersetze ich Ihnen das Zeichen hsin, das ›Herz‹ bedeutet, doch was es bezeichnet, ist gut und gerne der Geist, der Geist [5] bei Hegel. Nun denn, das fordert uns ab, dies ein wenig mehr zu entwickeln.

›Was Ihr nicht im Bereich Eures Geistes findet, solltet Ihr nicht im Bereich Eures tchi – das heißt, Eurer Empfindsamkeit – suchen‹. Die Jesuiten übersetzen dies, ein wenig außer Atem kommend, eben so, wie sie es vermögen.

Diesen universellen ›Hauch‹ oder ›Atem‹, auf dem ein Aspekt des taoistisch-energetischen Denkens mit dem Konzept einer Regeneration des qi / ch'i [jap. ki ] [6] basiert, übersetzt Lacan (1971, 36) einerseits mit »sensibilité«, Feinfühligkeit / Empfindsamkeit also, setzt aber andererseits – wohl in Anspielung auf die meistens vorgenommene Übersetzung als ›Atem‹, ›Äther‹ oder ›(Luft-)Hauch‹ – hinzu, bei der oft beliebig erscheinenden Übersetzung seien die Jesuiten »ein wenig atemlos geworden« (Lacan 1973, 146). Und er setzt dieser konventionellen Auffassung provozierend entgegen, man müsse dabei (stattdessen?) insbesondere nicht nur an einen »Furz« [foutre] des Universums denken, sondern müsse zudem als Subjekt im erregenden Angesicht des Ursprungs »seinen Furz zurückhalten« (Lacan 1973, 146). [7]

Ich weise Sie auf dies Abstufung lediglich hin, um Sie auf die Unterscheidung aufmerksam zu machen, die es, und das sehr bestimmt [stricte], zwischen dem gibt, das sich im Diskurses artikuliert, und dem, was dem Geist(igen) [esprit], dem Wesentlichen [essentiel] also, zugehört. Wenn Sie nicht schon auf der Ebene der Sprache fündig geworden sind, ist dies aussichtslos, versuchen Sie also nicht, andernorts, auf der Ebene der Gefühle, etwas zu heraus zu holen. [aller chercher]. Meng-tzu, Menzius [8], widerspricht sich, das ist eine Tatsache. Aber es handelt sich darum zu wissen, auf welchem Abweg [voie] und warum.

Dies also, um Sie wissen zu lassen, das eine bestimmte Art und Weise, den Diskurs völlig in den Vordergrund zu rücken überhaupt nicht dazu angetan ist, uns zu Archaismen zurückgehen zu lassen. Im Zeitalter von Menzius erwies sich der Diskurs bereits als vollkommen artikuliert und ausgebildet [constitué]. Mit den Mitteln einer Bezugnahme auf ein primitives Denken lässt dieser sich nicht verstehen.

In Wahrheit weiß auch ich nicht, was ein primitives Denken ist. Eine viel konkretere Angelegenheit, als für uns nachvollziehbar ist [que nous avons à notre portée], das bezeichnet man [doch] als unterentwickelt [le sous-développement]. Das aber, das Unterentwickelte [le sous-développement], ist keineswegs archaisch, sondern wird – wie jedermann weiß – durch die Auswüchse [extension] der kapitalistischen Herrschaft produziert. Ich würde sogar sagen, dass das, was man erkennt [s’aperçoit] und dessen man sich immer mehr bewusst werden wird [s’apercevra de plus en plus], darin besteht, dass die Unterentwicklung in Wahrheit [très précisement] die Basis [condition] des kapitalistischen Fortschritts darstellt. In gewisser Hinsicht ist die Oktoberrevolution hierfür ein Beweis.

Diese Referenz auf die Dynamik der kapitalistischen Ordnung ist keineswegs ein – u. U. modisch-zeitgeistiger – politischer Diskurs einer Nach-68er-Ära: Vielmehr versteht Lacan (1972b, 40) den kapitalistischen Verwertungsdiskurs des Marktes als eine »wahrlich verpesteten« Diskurs [vraiment pestueux] und vor der Matrix der Herr-Knecht-Dialektik – siehe unten – als eine Sonderform des Herrendiskurses, die er mit dem Mathem darstellt. Mit dieser Charakterisierung greift er eine Freud zugeschriebene Äußerung auf (Lacan, 1955, 403), die jener bei seiner Ankunft 1909 in New York gegenüber Jung gemacht habe: »Sie wissen nicht, dass wir ihnen die Pest bringen«. Selbst als apokryphe ›Zitation‹ ist dieser Kommentar signifikant, denn solchermaßen wäre Freuds Art und Weise gewesen, die Kluft zwischen dem strategischen Wissenschaftsinteresse, psychotechnischen Fortschrittsglauben und ökonomisch totalisierten Machtdiskurs gegenüber einer Ethik der Psychoanalyse zu formulieren (Delay, 2004, 3).

Was man jedoch (an)erkennen [voir] muss, ist die Tatsache, dass wir es mit einer Unterentwicklung zu tun haben, die immer offensichtlicher wird, immer weiter reicht. Letztlich handelt es sich darum, für Folgendes den Nachweis zu führen – dass der Schlüssel zu verschiedenen, sich uns stellenden Problemen nicht darin besteht, uns auf die Stufe dieses Effekts des kapitalistischen Wirksystems [articulation] zu stellen, das ich im letzten Jahr im Dunkel beließ, als ich Ihnen nur seine Wurzel im Herrendiskurs angab. Vielleicht kann ich Ihnen in diesem Jahr mehr hierüber berichten.

Bleibt abzuwarten, was wir aus dem ziehen können, das ich als eine unterentwickelte Logik zu bezeichnen gedenke. Genau dies versuche ich Ihnen, wie die chinesischen Schriften besagen, zu Ihrem besten Nutzen [pour votre meilleur usage] zu verdeutlichen [articuler].

Mehr oder weniger deutlich – mehrdeutig also – weist Lacan mit dem Terminus »usage«, d. h. (1) Gebrauch, Nutzung / Benutzung, Anwendung, Verwendung, (2) Nutzen, Niesnutzen, Niesbrauch, (3) Bedienung, (4) Verbrauch, (5) (Verwendungs-)Zweck, (6) Brauch, Gepflogenheit, Usance, darauf hin, dass diese kapitalistische Logik bereits in einer Verwertungs- bzw. Gebrauchslogik der Philosophie chinesischer Klassiker angelegt ist und weder er noch seine Zuhörer diesem Ausbeutungsinteresse des (Meinungs-)Marktes entkommen, eben so, wie bereits weder originärer Kapitalismus noch revolutionärer Kommunismus eine Alternative darstellen, weil beide den Gesetzen des(selben) Marktes unterliegen. Insofern ist Lacans Schlusswort mitnichten einfach nur historisierende Fußnote der Gelehrsamkeit, sondern Element eines ebenso selbstironischen wie zynischen Wahrheitsdiskurses.

Literatur


Delay, Jean-Christian. 2004. Le b-a-ba de la psychanalyse. Online-Publ.: http://homepage.mac.com/martiguy1/.Public/Delay-b_a_ba.pdf.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1975. Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Kojève, Alexandre. 1975. Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Krutzen, Henry. 2009. Jacques Lacan. Index référentiel des Séminaires 1952-1960. Paris: Economica/Anthropos.

Lacan, Jacques. 1955. La chose freudienne ou Sens du retour à Freud en psychanalyse. Amplification d’une conférence prononcée à la clinique neuro-psychiatrique de Vienne. In: Lacan, J. (1966) op. cit., 401-436.

Lacan, Jacques. 1966. Ecrits. Paris: Seuil.

Lacan, Jacques. 1971. L’homme et la femme. In: Lacan, J. (2006a) op. cit., 23-37.

Lacan, Jacques. 1972a. L’étourdit. In: Lacan, J. (2001) op. cit., 449-495.

Lacan, Jacques. 1972b. Discours à l’Université de Milan le 12 mai 1972. In: Lacan (1978) op. cit., 32-55.

Lacan, Jacques. 1973. Ronds de ficelle. In: Lacan, J. (1975) op. cit., 149-172.

Lacan, Jacques. 1975. Le Séminaire, Livre XX: Encore. Paris: Points-Seuil.

Lacan, Jacques. 1978. Lacan in Italia 1953-1978. En Italie Lacan. Milano: La Salamandra. Online-Publ.: http://www.ecole-lacanienne.net.

Lacan, Jacques. 2001. Autres écrits. Paris: Seuil.

[5] Im franz. Original als deutscher Terminus technicus bei Hegel (1975), auf den Lacan in mindestens 100 (!) Vorlesungen Bezug nimmt (Krutzen, 2009, 817-820). Die Interpretation der hegelschen Herr-Knecht-Dialektik durch Kojève (1975, 48-89), den Lacan als seinen Lehrer [maître] bezeichnet, der ihn in die Philosophie Hegels einführte (Lacan, 1972, 453), war darüber hinaus wesentlich für die Ausarbeitung des Herrendiskurses [discours du maître] mit dem der Diskursformel, dem Mathem .

[6] chin. qi / ch'i 氣, jap. ki : Gas, Luft; Temperament, Wesen; Wolke


[7] Der französische Begriff »foutre« bedeutet umgangssprachlich als Verb im Deutschen ›etwas treiben, eine verpassen, abhauen, auf etwas pfeifen, verarschen, scheißegal sein, stinkfaul sein‹, ist als Substantiv unüblich, mithin schwerlich übersetzbar; gemeint ist mit Bezugnahme auf das Motiv des Atems oder Hauchs so etwas wie ein ›beschissener Wind‹ oder ›stinkender Atem‹, kurz, ein ›Furz‹ eben, der – da sich das Subjekt nicht gehenlassen und (seelische wie körperliche) Verdauungsprodukte (aus)halten soll – zurückzuhalten ist.


[8] 孟子 Mèngzǐ, latinisiert Mencius oder Menzius (ca. 379 v. Chr. – ca. 290 v. Chr.), chin. Philosoph, war ein bedeutender Nachfolger des Konfuzius, von dessen Lehre (Menzius, 1982) er die Fürsten der chinesischen Reiche als Staatsphilosophie zu überzeugen suchte.


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