Die Lider Buddhas
Ich werde hier nicht auf Keyserling [1] machen und Ihnen etwa die östliche Psychologie erklären wollen.
Zunächst gibt es keine östliche Psychologie. Gottseidank erreicht man Japan heutzutage2 direkt über den Nordpol, was den Vorteil hat, uns spüren zu lassen, dass es sehr wohl als eine Halbinsel Europas angesehen werden könnte. Dies ist tatsächlich der Fall, und ich versichere und sage voraus, dass Sie eines Tages irgendeinen japanischen Robert Musil auftreten sehen werden, der uns aufzeigen wird, wo wir uns befinden und bis zu welchem Punkt diese Beziehung des Christen zum Herzen noch lebendig oder ob sie versteinert ist.
Doch dorthin will ich Sie heute nicht weiter führen. Ich möchte einen Umweg nehmen, eine Erfahrung nutzen, ein eigenes früheres Zusammentreffen auf seine Grundstruktur reduzieren [styliser], um mich etwas aus dem Bereich zu nähern, der derzeit noch von buddhistischen Praktiken, insbesondere denen des Zen, am Leben erhalten wird.
Wie Sie sich denken können, ist es angesichtzs des Ablaufs einer derart kurzen Exkursion [raid] nicht möglich, davon mal eben so zu berichten. Ich werde Ihnen vielleicht im Kontext [au terme] dessen, was wir nun durchgehen werden, einen Satz [phrase] wiedergeben, den ich vom Abt eines der Kamakura-Klöster [3] aufgeschnappt habe, zu dem man mir Zutritt ermöglicht hatte. Ohne irgendein Nachsuchen meinerseits gab er mir eine Redewendung [phrase] mit, die mir durchaus zeitgemäß [pas hors de saison] erscheint, was das betrifft, das wir hier hinsichtlich der Beziehungen des Subjekts mit dem Signifikanten zu bestimmen [définir] suchen. Doch dies sollte einem zukünftigen [Untersuchungs-]Bereich [champ] vorbehalten bleiben. Die Zusammentreffen, von denen ich vorhin sprach, waren einfacher [plus modestes], erschwinglicher [plus accessibles], unproblematischer [plus aisées] in diese Kurzreisen einzufügen, auf die uns der Lebensstil reduziert, den wir führen. Ich spreche von Begegnungen mit Kunstwerken.
Es mag Sie erstaunen, dass ich Statuen mit religiösem Status [à fonction religieuse], die grundsätzlich nicht mit der Zielvorstellung [aux fins] eines Kunstwerkes geschaffen wurden, so bezeichne. Sie sind es dennoch unbestreitbar in ihrer Zweckbestimmung [intention] und in ihrem Ursprung, sie sind unabhängig von ihrer Funktion immer als solche aufgefasst und empfunden worden. Es ist daher keineswegs unangebracht, diesen Zugangsweg zu wählen, um daraus zwar – würde ich sagen – keine Botschaft zu entnehmen, doch aber [anzuerkennen], dass sie einen gewissen Bezug des Subjekts zum Begehren verkörpern [représenter] können.
Ich habe in Eile und in der Absicht, eine mir wichtige Ganzheit [intégrité à laquelle je tiens] zu bewahren, eine kleine Montage aus drei Photos einer einzelnen Statue erstellt, [die sich] unter schönsten [befindet], die in diesem [Tempel-]Bereich [zone], wo es an ihnen nicht fehlt, zu sehen sind und die aus dem X. Jahrhundert datieren. Sie befindet sich im Frauenkloster, im Nonnenkloster von Todai-ji in Nara [4], das bis zum X. Jahrhundert mehrere Jahrhunderte hindurch der Zeremonienort [lieu de l’exercice] des kaiserlichen Herrschers war. […]
Kommen wir zum Buddhismus. Sie wissen bereits, dass sein Bestreben, seine Prinzipien der Anwendung von Lehrmeinungen [recours dogmatique] ebenso wie die damit verbundene Askesepraxis sich in folgender, uns zutiefst interessierenden Formel zusammenfassen lässt – das Begehren ist eine Illusion. Was bedeutet dies? Illusion kann sich hier nur auf das Register der Wahrheit beziehen. Dies Wahrheit, um die es sich dabei handelt, kann bloß eine letzte Wahrheit sein, denn neben der Illusion bleibt das Wesen des Seins [fonction de l’être] genauer zu er-/klären. Festzustellen, das Begehren sei illusionär, bedeutet auszuweisen, dass es keine Grundlage [support], keine Zukunftsperspektive [débouché] noch ein verfolgtes Ziel [visée] auf irgendetwas hat. Nun haben Sie reichlich genug, und sei es bei Freud, vom Nirvana berichten gehört, um zu wissen, dass dieses nicht mit einer reinen Verengung auf das Nichts gleichzusetzen ist. Der Gebrauch der Negation, wie er im Zen, beispielsweise im Regress auf das Schriftzeichen mou geläufig ist, kann nicht darüber hinwegtäuschen. Es handelt sich um eine recht charakteristische Negation, ein es gibt nicht [ne pas avoir], das – schon für sich allein – ausreichen sollte, um uns zu warnen.
Das, worum es sich – zumindest in der Hauptteil [étape médiane] der Beziehung zum Nirvana – handelt, wird immer in einer sich auf alle Niederschriften der buddhistischen Wahrheit erstreckenden Weise im Sinne einer Nicht-Dualität artikuliert. Wenn es ein Objekt deines Begehrens gibt, ist dieses nichts anderes, als du selbst. Dies ist allerdings nicht ein dem Buddhismus eigener Grundzug [trait original]. Tat wan asi, es bis du selbst, den du im Anderen wiedererkennst / anerkennst [reconnais] [7], steht schon in der Vedenta. [8]
Da ich in Ihnen keiner Weise eine Geschichte und eine Kritik des Buddhismus darlegen kann, führe ich diesen lediglich ein [ne le rappelle ici], um mich auf kürzesten Wegen dem anzunähern, das – wie Sie sehen werden – als eine sehr charakteristische Erfahrung meinerseits in der Beziehung zu dieser Statue für uns brauchbar ist.
Wie sie [die Erfahrung] etappenweise, fortschreitend, bei dem, der sie lebt, der sich auf buchstäblich [proprement] asketische Weise für ihre Pfade entscheidet [s’engage dans ses chemins], darauf abzielt, sich in ihm zu verselbständigen [tend à s’établir], was zweifelsohne selten ist, impliziert die buddhistische [Selbst-]Erfahrung die außerordentliche Eigenschaft einer Spiegelfunktion. Ebenso ist die Metapher dabei gebräuchlich. Bereits vor geraumer Zeit habe ich aufgrund dessen, was mir bereits bekannt war, in einem meiner Texte auf diesen Spiegel ohne Fläche, in dem sich nichts spiegelt, angespielt. So zumindest war die Formulierung [terme], wenn Sie wollen der [Zwischen-]Schritt [étape], der Satz, auf den ich mich zu beziehen gedachte, um das zuvor erörterte Ziel zu verfolgen. Sie werden ihn in meinem Artikel über die psychische Kausalität [9] finden. Diese Spiegelbeziehung [rapport en miroir] zum Objekt ist für jede Erkenntnislehre [gnoséologie] eine derart gängige und leicht zugängliche Denkfigur [référence], wie es ebenso leicht ist, sich in projektive [Wahrnehmungs-/Denk-]Irrtümer hineinzumanövrieren [s’engager dans l’erreur de la projektion]. Uns ist bewusst, wie schnell die Dinge im Außen die Farbe unserer Seele, und sogar deren Form, annehmen, und dass sie sogar in Form einer Dublette auf uns zurückkommen [s’avancent vers nous sous la forme d’un double].
Doch wenn man das Objekt a als Wesenskern [essentiel] in das Verhältnis zum Begehren einführt, erhält die Angelegenheit des Dualismus und Nicht-Dualismus ein ganz anderes Aussehen [relief]. Wenn das, was am meisten ich selbst bin, sich im Außen befindet, nicht so sehr weil ich es dorthin projiziert habe, sondern weil es von mir abgetrennt wurde, bieten die Wege, die ich für seine Rückgewinnung nehmen muss, eine gänzlich andere Vielfalt an. Um der Spiegelfunktion in dieser Dialektik eines Wieder(an)erkennens [reconnaissance] einen Sinn zu geben, der nicht im Stil einer Allerweltsweisheit [tour de passe-passe], eines Winkelzugs [escamotage], einer Magie daherkommt, sind einige Anmerkungen angebracht, von denen die erste, mitnichten idealistisch zu verstehende [Erläuterung] lautet, dass bereits das Auge einen Spiegel darstellt.
Das Auge organisiert, würde ich sagen, die Welt im [Zwischen-]Raum [en espace]. Es spiegelt das, was im Spiegel an Spiegelung da ist, doch für das schärfsten Auge ist die Spiegelung, die es von der Welt selbst in sich trägt, in jenem Auge ersichtlich, das es im Spiegel erblickt. Kurzum benötigt man keine gegenüber positionierten Spiegel, damit allein die unendlichen Spiegelungen des Spiegelpalasts erzeugt werden. Sobald es ein Auge und einen Spiegel gibt, zeigt sich eine unendliche Auffächerung gegenseitig widergespiegelter Bilder [un déploiement infini d’images entre-reflétées].
Diese Feststellung erfolgt nicht zum Beweis seines Einfallsreichtums, sondern um uns an den maßgeblichen Punkt des Anfangs zurück zu bringen, der derselbe ist wie der [Punkt], an dem die Urproblematik [difficulté orginelle] der Arithmetik, die Grundlegung [fondement] der Eins und der Null, entsteht [se noue].
Das im Auge entstehende Bild, das Sie in der Pupille sehen können, erfordert zu Anfang ein Korrelat, das seinerseits gar kein Bild sein muss. Wenn die Oberfläche des Spiegels mitnichten da ist, um die Welt aufzunehmen [supporter], besagt das nicht, dass nichts diese Welt spiegelt, dass die Welt mit der Abwesenheit des Subjekts vergeht [s’évanouit], es bedeutet genau genommen [lediglich], dass sich nichts spiegelt. Das heißt, dass es vor dem Raum ein Eines [Un] gibt, das Mannigfaltigkeit [multiplicité] als solche enthält, die vor der Entfaltung des Raumes [déploiement de l’espace] als solchem liegt – eines Raumes, der immer nur ein gewählter Raum ist, in dem sich neben-/aneinander gereihte Dinge [choses juxtaposées] solange halten können, wie in ihm Platz ist. Dass dieser Platz unbestimmt [indéfinie] oder unendlich ist, ändert nichts an dieser Frage.
Um Ihnen zu verdeutlichen, was ich bezüglich dieses Einen sagen will, das – und zwar jeweils im Plural – nicht mia, sondern pollè [10] ist, werde ich Ihnen einfach zeigen, was Sie in Kamakura sehen können. Es ist, von der Hand eines Bildhauers, dessen Namen [11] man sehr wohl kennt und aus dem XII. Jahrhundert, Buddha, der in Form einer drei Meter hohen Statue [12] konkret dargestellt [représenté matériellement] und durch tausend weitere dinglich vor Augen geführt wird [matériellement représenté par mille autres].
Der Gegensatz vom Monotheismus/Polytheismus ist vielleicht keine so eindeutige Angelegenheit, wie Sie sich für gewöhnlich vorstellen, denn die dort befindlichen tausend und eine Statuen sind alle vollkommen identisch derselbe Buddha. Im Übrigen ist rechterdings [en droit] jeder von Ihnen ein Buddha – rechterdings, weil Sie aus besonderen Gründen mit irgendeinem Gebrechen [boiterie] in die Welt geworfen sein können, das für diesen Einstieg [accès] ein mehr oder weniger unüberwindliches Hindernis darstellen kann.
So bleibt nicht weniger als dass sich das subjektive Eine in seiner unendlichen Vielfalt und Wandelbarkeit [variabilité] hier hinsichtlich des ausgeführten Eintritts in die Nicht-Dualität, in einen Bereich jenseits [à l’au-delà] jedes pathetischen Schwankens [variation pathétique] und jedes kosmischen Wandels mit dem letzten Einen identisch erweist. Wir sollten uns dafür weniger als Phänomen interessieren denn dafür, dass es uns eine Annäherung an die Bedeutungen [rapports] ermöglicht, die es – wie sich an ihren Auswirkungen erweist – historisch und strukturell im Denken der Menschheit hatte.
Ich muss Ihnen einige Präzisierungen liefern.
Die erst besteht darin, dass es durch in eine Vielzahl von Armen, Insignien und den paar den Hauptkopf krönenden Köpfe eingetragenen Vervielfältigungseffekte in Wirklichkeit dreiunddreissig tausend dreihundert dreiunddreissig gleichermaßen identische Wesenheiten [êtres] gibt. Doch das ist lediglich ein Detail.
Die zweite besteht darin, dass dies, uneingeschränkt gesagt [à absolument parler], nicht die Gottheit Buddha ist. Es handelt sich um einen Bodhisattva, das heißt – kurz gesagt – um einen Beinahe-Buddha [presque-Bouddha]. Er wäre vollkommen Buddha, wenn er gerade nicht da wäre, doch er ist da, und dies in jener vervielfachten Weiswe, die so viel Mühe abverlangt hat. Diese Statuen sind lediglich das Bild der Mühe, die er auf sich nimmt, um da zu sein, um für Sie da zu sein. Es handelt sich um einen Buddha, dem es noch nicht gelungen ist, vom Interesse am Heil der Menscheit abzulassen [se désintéresser du salut de l’humanité], dies zweifelsohne aufgrund eines dieser Hindernisse, auf die ich vorhin anspielte. Dies ist der Grund, warum Sie, sofern Sie Buddhist sind, vor dieser prachtvollen Versammlung einen Kniefall machen. Sie schulden dem Einen [l’unité] Dankbarkeit, der in so großer Zahl gütig genug war, Ihnen seine Zuneigung zu bewahren, um Ihnen hilfreich beizustehen [qui s’est dérangée en so grand nombre pour rester à portée de vous porter secours]. Die Bilddarstellung führt [jeweils] auf, in welchem Fall sie ihnen Hilfe leisten werden.
Der Boghisattva, um den es sich handelt, nennt sich im Sankrit Avalokiteshvara. Sein Name ist, vor allem zu unserer Zeit, in den Bereichen äusserst verbreitet, die Yoga machen.
Das erste Bild der Statue, das ich Ihnen herumgereicht habe, ist ein historischer Avatar dieser Figur. Bevor ich mich für das Japanische interessierte, hat der Zufall gewollt, dass ich die richtigen Wege gegangen bin und mit meinem guten Lehrer Demiéville in den Jahren, in denen mich die Psychoanalyse mir mehr freie Zeit übrig ließ, dieses Buch ergründet habe [ai expliqué], das Sutra der Lotosblume vom wunderbaren Gesetz [13] heißt, das als Übersetzung eines Sanskrit-Textes von Kamarajiva [14] auf Chinesisch geschrieben war. Dieser Text ist in etwa der historische Wendepunkt, an dem sich die Transformation [l’avatar], die einzigartige Metamorphose vollzog, die ich sie sich zu merken bitte, das heißt, dass Avalokiteshvara als derjenige, der das Weinen der Welt hört, sich – von der Zeit Kamarajivas an, der mir dafür ein wenig verantwortlich zu sein scheint – in eine weibliche Gottheit wandelt.
Diese nennt sich – ich denke, dass Sie ebenfalls ein bisschen eingestimmt haben – Guanyin [Kwan-yin] oder auch Guanshiyin [Kwan-ze-yin]. [15] Dieser Name hat dieselbe Bedeutung wie der Name Avalokiteshvara, nämlich: die, die abwägt [considère], die bejaht [va], die sich einfühlt [s’accorde]. Das ist Guan [Kwan]. Das ist der Begriff, von dem ich Ihnen vorhin sprach. Das ist ihr Stöhnen [gémissement] oder ihr Weinen. Das shi [ze] kann ggf. weggelassen werden. [16]
Die Guanyin [Kwan-yin] ist eine weibliche Gottheit. In China erscheint sie ohne Widersprüchlichkeiten, immer, in weiblicher Gestalt [forme], und anlässlich [à] dieser Transformation und über [sur] diese Transformation bitte ich Sie, einen Augenblick inne zu halten [vous arrêter un instant]. In Japan werden dieselben Worte Kannon [Kwan non] oder Kanzeon [Kwan ze non] gelesen, in Abhängigkeit davon, ob man ihr die Wesenheit der Welt(en) [caractère du monde] [17] zuschreibt oder nicht.
Nicht alle Gestalten der Kannon [Kwan non] sind weiblich, ich würde sogar sagen, dass die Mehrzahl dies nicht ist. Da Sie das Abbild der Statuen dieses Tempels, mit denen dieselbe Heilige oder Gottheit – beides beliebig verfügbare Begriffe [à laisser en suspens] – in mannigfacher Gestalt dargestellt wird, vor Augen haben, können Sie feststellen, dass die Figuren mit kleinen (Oberlippen-)Bärten und nur schwach angedeuteten Bärten ausgestattet sind. Sie sind also in männlicher Form präsent, was in der Tat mit der kanonischen Struktur dessen übereinstimmt, was diese Statuen einschließlich der passenden Anzahl von Köpfen und Armen verkörpern.
Genau um diese Wesenheit [être] handelt es sich bei der ersten Statue, von der ich hier die Darstellungen herumgehen ließ. Diese Statue entspricht einem Typus [forme], der als eine Nyoirin Kannon [Nyo i Rin, Kwa non] oder Kanzeon [Kwan ze non] angegeben wird. Nyoirin [Nyo i Rin] bedeutet, gleichermaßen sein Sanskrit-Äquivalent [corresponant sanskrit] – wie das Rad des Begehrens. [18]
Das also stellt sich uns dar.
Auf eine [historisch] unzweifelhaft belegte Weise begegnen wir den vorbuddhistischen Gottheiten, die mit verschiedenen Stufen jener Hierarchie gleichzusetzen sind, die sich also als Ebenen [niveaux], Teilstrecken [étapes], Zugangsformate [formes d’accès] zur höchsten Verkörperung der Schönheit entwerfen [s’articulent], das heißt als letztmögliche Erfahrung [intelligence dernière] des grundlegend illusorischen Charakters allen Begehrens. Dennoch erkennen Sie in eben diesem Inneren der in einem Zentrum – essentiell einem Zentrum des Nirgendwo [centre du nulle part] – zusammenlaufenden Vielfalt auf intensivst materialisierende Weise [de la façon la plus incarnée] das wiederkehren, was dabei am leibhaftigsten [plus vivant], echtesten [plus réel], lebhaftesten [plus animé], menschlichsten [plus humain], ergreifendsten [plus pathétique] in einem erlesenen Verhältnis zur göttlichen Welt existiert, das seinerseits wesensmäßig – und wie interpunktiert – durch zahlreiche Modulierungen des Begehrens [toute une variation du désir] gespeist wurde. Die Heiligkeit, mit einem großen H, erweist sich als quasi zentralster Zugang zur Schönheit durch eine weibliche Figuration des Göttlichen verkörpert, die man immerhin in ihrem Ursprung als nicht mehr und nicht weniger identifizieren konnte, als die Wiedererscheinung der indischen Shakti [19], einem weiblichen Urgrund [principe féminin du monde], im Herzen der Welt [à l’âme du monde].
Dies ist nun etwas, das uns einen Moment innehalten lässt.
Ich weiss, nicht, ob die Statue, deren Photos ich Ihnen habe zukommen lassen, es erreicht hat, in ihnen diese Schwingung [vibration], diese Verbindung [communication] hervorzurufen, von der ich Ihnen versichere, dass man dafür ob ihrer Ausdruckskraft [présence] empfänglich werden kann. Ich zumindest, ich bin es gewesen.
Der Zufall will es, […] dass ich in die kleinec Eingangshalle dieser Statue eintrete und dort einen niederknienden Mann vorfinde, dreissig bis fünfunddreissig Jahre alt, vom Typus eines kleinen Angestellten, vielleicht eines Handwerkers, schon durch seine Lebensweise wahrlich sehr verbraucht. Er kniete vor dieser Statue und betete ganz offensichtlich, was nichts wäre, an dem teilzunehmen ich versucht wäre. Dann aber ist er nach dem Gebet ganz nah an die Statue herangegangen, wobei nichts rechts, links, von unten daran hindert, sie zu berühren. Er hat sie so betrachtet, eine Zeit lang, die ich nicht angeben könnte, die für mich kein Ende nahm, denn offen gestanden überlappte [s’est superposé] diese Zeitspanne [temps] mit der meines eigenen Schauens [regard]. Das war offensichtlich ein ergriffenes Schauen [regard d’effusion] voen einer um so außergewöhnlichen Art, als es sich dabei keineswegs um einen gewöhnlichen Mann handelte, denn das könnte ein Mann, der sich so verhält, nicht sein, sondern um jemanden, den schon allein wegen der erkennbaren Last, die er von seinen Strapazen [travaux] auf den Schultern trug, nichts für diese Art feinsinniger Wesensverwandtschaft [communion artistique] vorzubestimmen schien.
Die andere Seite dieses Vorgefühls [appréhension] werde ich Ihnen auf andere Weise enthüllen.
Sie haben die Statue, ihr Gesicht, betrachtet, sie haben diesen insofern ganz und gar erstaunlichen Ausdruck wahrgenommen, als unmöglich darin abzulesen ist, ob sie ganz für Sie da ist oder gänzlich in ihrem Innern. Ich wusste noch nichts über eine Nyoirin [Nyo i Rin], eine Kanzeon [Kwan ze non], doch hatte ich schon vor geraumer Zeit Erzählungen über die Guanyin [Kwan yin] gehört. Über diese und andere Statuen fragte ich [mich]: Handelt es sich schlussendlich um einen Mann oder eine Frau?
Ich glaube, dass es da einen viel ausschlaggebenderen Sachverhalt gibt, um das zur Sprache zu bringen [aborder], das man die Vielfalt der Problemlösungen des Objekts nennen kann. Mit allem, was ich Ihnen bislang über meinen ersten Zugang zu diesem Objekt berichtet habe, habe ich Ihnen meines Erachtens ausreichend aufgezeigt, inwiefern es sich dabei um ein Objekt des Begehrens [objet pour le désir] handelt.
Wenn es für Sie weiterer Einzelheiten bedarf, könnten Sie darauf aufmerksam werden, dass es bei dieser Statue keine Augenöffnung gibt. Nun haben die buddhisten Statuen immer ein Auge, dass weder als wirklich geschlossen noclh als halb geschlossen bezeichnet werden kann, denn es handelt sich um eine Augenstellung, die sich nur durch Übung erreichen lässt, nämlich um ein gesenktes Lid, das nur einen Schlitz [fil] des Weißen im Auge und einen Rand der Pupille passieren lässt. Alle Buddha-Statuen sind so ausgeführt. Diese Statue hat ihrerseits nichts dergleichen. Sie besitzt auf der Höhe des Auges schlicht eine Art scharfen Grat, der es mit dem diesem Holz eigenen Glanz [reflet qu’a le bois] so erscheinen lässt, als gäbe es darunter ein Auge. Im Holz jedoch gibt es nichts dergleichen. Ich habe das Holz hinreichend untersucht, ich habe mich erkundigt, und die Lösung, die ich fand – ohne dass ich mir von der beizumessenden Gewissheit [foi qu’il faut lui accorder] selbst eine Scheibe abschneiden könnte, denn sie wurde mir von jemandem sehr Spezialisiertem, sehr Serieusem, um ihn beim Namen zu nennen, dem Professor Kando mitgeteilt – besagt, dass der Sehschlitz dieser Statue im Laufe der Jahrhunderte aufgrund des Abriebs [massage] verschwunden ist, den sie die Nonnen des Klosters, deren wertvollster Schatz sie ist, mehr oder weniger täglich erdulden lassen, wenn sie die Tränen dieser Galionsfigur göttlicher Hilfe [cette figure du recours divin par excellence] abzuwischen (ge-)denken.
Im Übrigen wird die gesamte Statue von den Händen der Nonnen auf dieselbe Weise behandelt, wie der Rand des Auges. Ihr Glanz hat etwas Unbeschreibliches [qc d’incroyable], von dem Ihnen das Photo nur ein undeutliches Spiegelbild [vague reflet] vermitteln kann – Spiegelbild von dem, was an ihr die spiegelverkehrte Ausstrahlung [rayonnement inversé] dessen ist, das man nicht als ein lang anhaltendes Begehren [long désir] verkennen kann, welches im Laufe der Jahrhunderte durch ihre Klausnerinnen [recluses] auf diese Gottheit mit dem psychologisch unbestimmbaren Geschlecht [sexe psychologiquement indéterminable] übertragen wurde. […]
(Lacan, 1963a, 256-264)