1971 erklärt J. Lacan: „Ich habe eine Sache bemerkt, nämlich dass ich vielleicht nur Lacanianer geworden bin weil ich früher Chinesisch gemacht habe.“[2]


Er hat tatsächlich das Chinesische während des Krieges gelernt, indem er am Kurs von Demievielle teilnahm. 1970 nimmt er François Cheng als Professor des Chinesischen. Vier Jahre dauert ihre enge Zusammenarbeit.  Sie gehen zusammen nochmals die fundamentalen, kanonischen Bücher des chinesischen Denkens durch, wie J. Lacan selber sagt. Lao Zi wird ganz ebenso befragt wie Shitao oder Mencius, Denker, die er oft im Zuge seiner Lehre zitiert.



1. Sprechen und Mehr-Geniessen


J. Lacan erwähnt insbesondere Mencius [3] in zwei wichtigen Zeitpunkten seiner Lehre. Das erste Mal ist es im Juli 1960 anlässlich des Seminars über die Ethik. Er erwähnt ihn zunächst unter seinem bekanntesten Aspekt, nämlich dass Mencius bejahe, dass der Mensch gut sei. Und J. Lacan fügt warnend hinzu, „Sie hätten Unrecht, wenn Sie  glaubten, dass dies optimistisch sei.“

Der zweite Hinweis auf Mencius ist im Seminar „D’un discours qui ne serait pas du semblant“/Von einem Diskurs, der nicht scheinhaft wäre enthalten. [4] J. Lacan erinnert daran, dass Mencius nicht nur sagt, dass „der Mensch human ist“ oder dass „die Humanität den Menschen macht“, sondern dass er nur das sagt .... Die „Humanität“ ist nicht eine im Menschen niedergelegte Qualität (von wem? wodurch?). Es handelt sich um eine interaktive besondere Potenzialität, die sich mit dem Ausdruck moralisches Bewusstsein zusammenfassen lässt. Es zeigt sich nicht in einem Bewusstsein des Seins, in einem vorrangigen Aussagen, sondern durch die Akte und das Sich-Verhalten. Die Moral ist also für Mencius der Natur des Menschen xìng . inhärent.


Gerade mit dieser Frage des xìng beschäftigt sich J. Lacan im Seminar Von einem Diskurs, der nicht scheinhaft wäre, was er mit dem Ausdruck „Natur“ übersetzt. Anne Cheng sagt uns, dass wenn ein chinesischer Autor von Natur spricht, er an das schriftliche Zeichen denkt —  […], das sich zusammensetzt aus dem Element , das „Leben“ bedeutet, „geboren werden“ oder „erzeugen“. (wobei zu bemerken ist, dass im Wort „Natur“ das lateinische Verb  nascor steckt ) […] und das Radikal Herz/Geist / xīn. [5]

Das ist genau der Ausdruck, der sich im Zitat von Mencius wiederfindet, das J. Lacan an diesem 17. Februar 1971 an die Tafel schreibt und das er ausführlich kommentiert:


                             

                             

                            

                            

                            

                               


Das wird von oben nach unten und von rechts nach links gelesen. Wir hatten die Gelegenheit, dieses Zitats und J. Lacans Lektüre detailliert zu kommentieren. [6]


Der Satz beginnt mit „Überall unter dem Himmel, überall auf der Welt“. Aber in der Folge interpretiert J. Lacan diese Schrift neu, indem er mit dem besonderen Charakter der klassischen chinesischen Sprache spielt und mit dem Sachverhalt, dass mit der Abwesenheit der grammatikalischen Form ein Zeichen zugleich die Funktion eines Verses, eines Namens oder eines Adjektivs haben kann. So impliziert der Ausdruck yán (ein Mund , darüber eine Flöte), die Idee der Sprache [langage], und J. Lacan präzisiert „aber wie alle Ausdrücke in der chinesischen Sprache lässt er sich auch im Sinne eines Verbs verwenden. Das kann also zugleich das Sprechen und das was spricht besagen.“[7] Gewöhnlich wird es als Verb aufgefasst und man übersetzt somit: „Überall unter dem Himmel sagt man der Natur xìng .“ J. Lacan macht im Gegensatz dazu aus yàn einen Determinanten von xìng ; von daher seine Formulierung:


„Yàn […], das kann zugleich das Sprechen und das was spricht, heissen, und

was spricht es? Das wäre in diesem Falle das was folgt, d.h. xing, „die Natur“, „das was unter dem Himmel von der Natur spricht“, die Sprache (langage), insofern sie in der Welt ist, unter dem Himmel ist, die Sprache ist es, die xing , „die Natur“ macht. [8]


Indem er sich auf Mencius selbst bezieht, präzisiert er, dass die in Frage stehende Natur diejenige des sprechenden Wesens ist, des Sprechwesens [parlêtre]. [9]


Tatsächlich entwickelt Mencius anderswo, dass sich diese Natur von derjenigen des Tieres darin unterscheidet, dass er Zugang zur Metapher hat. Oder, wie es J. Lacan sagt:

„Meine Hündin hält mich niemals für einen anderen.“[10]

Nachdem er auf diese Art freigelegt hat, was es mit der Natur des Sprechwesens auf sich hat, geht J. Lacan in seiner Lektüre von Mencius daran, ihre Ursache zu sagen. In der dritten Kolonne dieses Zitats befindet sich der Ausdruck li . Das Zeichen vereinigt „Korn“ und dāo „Messer“.

Die Körner   mit einem Messer herausschneiden, symbolisiert tatsächlich die Ernte, und das ist profitabel. Das gibt Korn .... wenn die Ähren bei der Ernte geschnitten werden! Diese Figur erweckt auch das Schneidende (eines Messers, dāo); wenn  es schneidet, dann weil es von selber geht, eine günstige Situation. Von daher die Übersetzungen, die man in Wörterbüchern findet: schneidend, günstig, Vorteil, Profit, Interesse, [11] Gutes Tun ...


J. Lacan, der empfänglich war für marxistische Formulierungen, die in diesen 70er Jahren sehr verbreitet waren, dehnt den Sinn dieses Ausdrucks aus:


„Wie li : das ist hier das Wort auf das ich Sie hinweise, li , ich wiederhole es, dieses li , das heissen will ‚Gut, Interesse, Profit’  […], das, was wir den Mehrwert     nennen würden.“


Ausgehend von diesen Ausdrücken Profit und Mehrwert schmiedet J. Lacan die Formel „plus-de-jouir“/Mehr-Geniessen. [12]


Bei der Lektüre dieser Stelle verleiht J. Lacan Mencius die Idee, dass dieser Profit, dieses Mehr-Geniessen sogar die Ursache des Sprechens ist, die die Natur betrifft.


Wenn man die Vielzahl der Übersetzungen dieses Zitats und die von jedem Übersetzer in Anspruch genommenen Freiheiten in Bezug auf das „Wort für Wort“ betrachtet, ist man voll mit der Zweideutigkeit dieser Schrift konfrontiert. Man ist ganz nahe bei dieser Sprache, auf die sich Mencius und J. Lacan beziehen, eine Sprache, die nicht diejenige der Wissenschaftler und der Linguisten ist.


Um so nahe wie möglich der Lektüre dieses Zitats von Mencius folgen zu können, schlage ich eine Reformulierung vor, die die Teilübersetzungen J. Lacans wie auch die gewöhnlichen Übersetzungen zum Ausdruck bringt:


„Überall tiānxià 天下, wenn der Mensch yàn von seiner Natur xing spricht, bekräftigt er dadurch, dass diese Natur durch die Sprache yàn begründet wird. Insofern er in der Welt ist, begründet die Sprache die Natur des sprechenden Wesens.

Es drängt sich auf , dass es sich nur um éryi 而已  dessen handelt, was vor der Tat war, das ursprünglich Gegebene Das ist !“

Und dieser Diskurs über die Natur yàn xing 言性  hat Wirkungen. Das heisst, es gibt Profit li , Mehr-Geniessen. Nun ist es wegen dieses Mehr-Geniessens


J. Lacan fasst das selber in Form einer Schlussfolgerung zusammen:


„Es ist hier, dass ich mir schliesslich gestatte anzuerkennen, dass was die     Wirkungen des Diskurses betrifft, für alles was unter dem Himmel ist, was daraus hervorgeht, nichts anderes als die Funktion der Ursache ist, insofern sie das Mehr-Geniessen ist.“[13]


Mencius verlängert diese Passage, indem er an die mythische Geschichte des YU erinnert, der die Fluten der Überschwemmungen dadurch abfliessen liess, dass er sie in der Richtung [dans le sens] des natürlichen Hangs führte. Mencius kritisiert den Bauer, der das Wachstum des Korns dadurch beschleunigen will, dass er an den Schösslingen zieht, wo es doch genügt, die Wurzeln běn.


Das bringt die andere Dimension des lì.



2. Die Schrift als Knochen des Geniessens


Im Lauf seiner Lehre und insbesondere in den 60er Jahren befragt J. Lacan die Artikulation [14] der Sprache und der Schrift, und dies auf gegensätzliche Weise. 1961, anlässlich des Seminars „L’identification“/Die Identifikation unterstreicht er, dass die Schrift gegenüber dem Sprechen vorrangig ist (20. Dezember 1961), was er 1969 bekräftigt („D’un Autre à l’autre“/Von einem Andern zum andern). Aber in jedem Fall wird diese Reflexion über die Schrift in Bezug auf die chinesische Schrift geführt.

Um das Wort Schrift zu sagen, zu schreiben, sagen die Chinesen wén . Wén ist zugleich Schrift und Kultur, oder auch literarisches Erzeugnis. Aber auch Ornament, Eleganz, Raffinesse.

  1. J.Lacan erinnert selbst im März 1971 daran:

Wen , das ist „Schrift“.[…] Sie sollten es gleichwohl schreiben können, weil es für die Chinesen das Zeichen für die Zivilisation ist.“

Am Anfang wurde dieses Zeichen wie folgt geschrieben, gezeichnet:




Man erkennt zunächst Tätowierungen auf einem Körper! Ganz genau das, was J. Lacan in „Radiophonie“ als Ausdruck des Geniessens erwähnte. [15]

Es ist diese Schrift, die die Einheit dessen konstituiert, was man in Übereinkunft „die chinesische Welt“ nennt, eine Einheit, die über die Orte und die Jahrtausende hinausreicht. Die Schrift ist so sehr die Hauptstütze dieser chinesischen Kultur, dass man sagen kann, dass die chinesische Sprache die Schrift ist.


2.1. Schrift und einziger Zug


Anlässlich des Seminars Von einem Diskurs, der nicht scheinhaft wäre und insbesondere in der Sitzung vom 17. Februar 1971 befragt J. Lacan aufs Neue die Artikulation der Sprache und der Schrift. Er schreibt mit Kreide ein chinesisches Zeichen, das (in pinyin) heisst:  . [16] Er verwendet die Eigenheit des Zeichens, um die Beziehung zu „schreiben“ zwischen (ich übernehme seine Ausdrücke):


1. – den Wirkungen der Sprache

2. – da, wo ihre Wirkungen ihr Prinzip annehmen […] ein Schritt [un pas]

3. – der Tatsache der Schrift


Er besteht auf der graphischen Dimension dessen, was er mit Kreide schreibt und bedauert, „nicht die Akzente setzen zu können, die der Pinsel erlaubt.“ Man kann annehmen, dass J. Lacan gewünscht hätte, das Schema auf folgende Weise zu zeichnen:





Die Schrift ist nicht die Sprache [langage]. Aber sie lässt sich nur herstellen in Bezug auf die Sprache und ist also sekundär zur Sprache. Deshalb werden die logischen Fragen durch den Umweg über die Schrift möglich. Die Schrift gestattet, die Sprache zu befragen. Darüberhinaus gestattet sie, die symbolische Ordnung zu befragen, die aus der Sprache resultiert, das heisst die „demansion“, [17] den Ort des Andern der Wahrheit.

Das wirft ein besonderes Licht auf den Ausgangspunkt des Bezugs, den sich Lacan gibt, auf dieses Zeichen . Die Tatsache der Schrift ist ein Zug [trait/Strich], dieser Strich, der Rechenschaft gibt über den einzigen Zug und  die chinesische Schrift. [18] Alles beginnt mit einem ersten Strich. Für die Chinesen geraten die Schrift und die Zeichnung oft durcheinander, insbesondere in der Kunst der Kalligraphie, wo die zwei Ausdrücke „malen“ und „schreiben“ ohne Unterschied verwendet werden. Das ist es, woran J. Lacan erinnert, wenn er bedauert, keinen Pinsel zur Verfügung zu haben, um das Zeichen und den Graphen zu malen.


1961, anlässlich des Seminars über die Übertragung greift J. Lacan den freudschen Begriff einziger Zug wieder auf. Es ist jedoch im folgenden Seminar (Die Identifizierung, Dezember 1961) und im Gefolge der Entdeckung der in Knochen eingeschnittenen Kerben im Mas d’Azil, dass J. Lacan aus dem einzigen Zug das Wesen des Signifikanten macht. Die qualitative Differenz der Züge/Striche kann bei Gelegenheit die signifikante Selbigkeit unterstreichen.

„Der einzige Zug makrkiert das Eine der Differenz im Reinzustand, er markiert dieFunktion des Signifikanten, der — im Unterschied zum Zeichen — nicht etwas für jemanden vorstellt, sondern ein Subjekt für einen anderen Signifikanten repräsentiert. Er ist eine Streichung [„effaçon“] des Dinges.

Der einzige Zug manifestiert die Schrift (das Phonem, differenzieller Zug) im     Sprechen.“[19]


1967 erwähnt J. Lacan

Shitao, der eine grosse Sache aus diesem einzigen Zug macht; er spricht auf einer kleinen Anzahl Seiten nur von dem. Das nennt sich im Chinesischen yi, was heissen will 1 oder was heissen will: Zug/Strich.“[20]


J. Lacan bezieht sich auf Texte, die von Shitao geschrieben worden sind, diesem grossen chinesischen Maler des XVII. Jahrhunderts, der das Konzept des einzigen Zugs des Pinsels entwickelt hat. Ausgehend von dieser technischen Geste, der einfachsten, die es gibt, einer lächerlichen sogar, entwickelt Shitao die bemerkenswertesten Betrachtungen über die chinesische Philosophie und Kosmologie. Mittels dieses Pinzelzugs drücken sich der spirituelle Rhythmus und das absolute Eins aus.


François Cheng bezeugt das Interesse, das J. Lacan an dieser Schrift hatte. Er schreibt nach manchem Austausch mit J. Lacan: „Der Zug ist zugleich der Atem (souffle), Yin-Yang, Himmel-Erde, die zehntausend Wesen, wobei er dabei den Rhythmus und die verschwiegenen Triebe des Menschen auf sich nimmt.“[21] Der Übersetzer des Textes von Shitao, P. Rycksman, stellt ihn wie folgt dar:

„Dieses Konzept ist eine Schöpfung von Shitao. […]  Das wesentliche Paradox     dieses Konzept besteht darin, dass es als Ausgangspunkt eine konkrete  und     technische Bedeutung einer beinahe lächerlichen Einfachheit besitzt, und dass     zugleich der Gebrauch, der von ihm gemacht wird, es mit einer Menge von     Bezügen belädt, die uns auf die schwerstverständlichsten fundamentalen Prinzipien der alten chinesischen Philosophie und Kosmologie verweist. […] Erstes Stammeln der bildlichen Sprache und zugleich ihr letztes Wort.

Es ist der einzige Pinselstrich, der aufgefasst wird wie der privilegierte Kanal,     durch den sich „der spirituelle Rhythmus“ ausdrückt (dessen Ausdruck, wie man weiss, diese absolute Grenze konstituiert, auf die hin jede Malerei tendiert). […] Dank der Zweideutigkeit des Terms yi, der nicht nur „Ein“ bedeutet, sondern auch „das Eine Absolute“ der Kosmologie des Buchs der Wandlungen und der taoïstischen Philosophie.

‚Das Eine ist der Ursprung der Unendlichkeit der Geschöpfe, es ist das Dao in der absoluten Form.’

Es verkörpert auf beispielhafte Weise die Haltung des chinesischen Malers, die so gereinigt ist, bis sie auf das Universellste die Sicht des Menschen repräsentiert, der in Kommunion mit dem Universum handelt.“ [22]


Man sieht gut, wie sich das chinesische Zeichen im Schnittpunkt der Malerei und der Schrift befindet. Die Kalligraphie wird shūfǎ 书法 genannt, was wörtlich „Schreibdisziplin“ heisst. Die Ausführung mit dem Pinsel erträgt weder Nachbessern noch Korrektur noch Zögern noch Bedauern .... Es ist die Kunst des Zugs par excellence. François Cheng beschreibt treffend, was dabei vorgeht:

„Wenn ein chinesischer Kalligraph seinen Pinsel ergreift, ist er überzeugt, dass der Atem, der seine Hand inspiriert, der selbe ist wie derjenige, der das Universum am Leben erhält. wenn er das Tai Ji Chuan ausübt, ist er sicher, dass der Atem, mit dem er kommuniziert, der selbe ist wie derjenige, der jedes lebende Ding bewegt. [23]

In der Bewegung des qi erzeugt, engagiert die chinesische Schrift das Körperliche im Werk der Schöpfung — eine wahrhafte ‚graphische Eloquenz’.“[24]


J. Lacan unterstreicht die Bedeutung dieser Kalligraphien, die die Mauern schmücken. Es genügt übrigens, das Bedürfnis der Leute zu sehen, der einfachen wie der gebildeten, in ihrem Inneren kalligraphierte Sätze zu haben. Sie sind eher da, um den Geist zu erheben und zu nähren, um ihn friedlich zu stimmen und ihn zur Meditation zu bewegen, als bloss um der dekorativen Wirkung willen. Es ist ein völliges Ruhen des Menschen, sie zu betrachten und zu wissen, dass sie da sind.



2.2. Die Schrift als Knochen, wovon die Sprache das Fleisch wäre 


Es sind die Kalligraphien, die die Aussagen von J. Lacan in seinem Vortrag vom 12. Mai 1971 inspirieren, der den Titel Lituraterre trägt, ein Vortrag, der Teil ist des Seminars Von einem Diskurs, der nicht scheinhaft wäre.  J. Lacan entwickelt dort auf glänzende Art den Begriff „lettre“/“Buchstaben, Brief“. [25]

Der Bezug auf die Kalligraphie ist dort wesentlich. In der Kalligraphie und speziell in der kursiven Schrift, im Stil, der „herbe folle“/“verrücktes Gras“, cǎoshū 草書, genannt wird — ich greife hier eine Formulierung J. Lacans auf — ist die Hochzeit der Malerei mit dem Schrieb offensichtlich. In dem sogenannten „herbe folle“-Stil „löscht das Singuläre der Hand das Universelle“ und die Dimension des Signifikanten aus, des Signifikanten, der dennoch durch den Schrieb unterstützt wird.

Der Schrieb führt uns „an den Rand des Lochs im Wissen, es ist nicht hier in dem was er zeichnet.

“ Der Schrieb ist eigentlich die Küste (le littoral), der Rand des Lochs im Wissen. „Zwischen Zentrum und Abwesenheit, zwischen Wissen und Geniessen gibt es Küste (littoral).“

Darum ist der Schrieb das, „was im Realen sich darstellt als Durchfurchen (ravinement). […]


Die Schrift ist im Realen das Durchfurchen  des Signifikats, das was vom Scheinbaren (semblant) geregnet hat, insofern er den Signifikanten macht.“ Was, wie J. Lacan es genau sagt, zwischen den Wolken heraus […] geregnet hat. Wolken-Regen, yún-yǔ 云雨: so sagen die Chinesen der sexuellen Beziehung .....

   

Immer noch im Seminar Über einen Diskurs, der nicht zum Schein wäre, bekräftigt er:

„Die Schrift (l’écrit) ist nicht vorrangig sondern sekundär in Bezug auf jede Funktion der Sprache […] . Vom Sprechen aus bahnt sich der Weg zur Schrift.“ [26]


Oder auch:

„Die Schrift (l’écriture) ist etwas, das in gewisser Weise aus dem Sprechen     zurückwirkt, aus dem Bewohnen des Spechens.“[27]


Er legt so die Vereinigung der Schrift und der Sprache nahe:

„Die Schrift ist seit ihren Anfängen bis zu ihren letzten Ausformungen niemals etwas anderes als das was als Knochen zergliedert  wird (s’articule), wovon die     Sprache das Fleisch wäre. […].“ [28]


Es ist bemerkenswert festzustellen, wie J. Lacan hier eine Formulierung der Kalligraphen aufgreift, für die der Zug des Pinsels den Knochen — , der Leben oder Tod gibt, Festigkeit und Gradlinigkeit, — und das Fleisch umfasst, wenn die Dicken und die Dünnen die Realität der Dinge ausdrücken.

„Der Pinsel hat vier Wirkungen: die Sehne (jīn ), das Fleisch (ròu ), den Knochen ( ) und den Atem (qì ). Die Sehne, das ist wenn der Elan dann fortgesetzt wird, wenn der Pinsel unterbrochen wird. Das Fleisch, das ist wenn die Dicken und die Dünnen die Realität der Dinge ausdrücken. Der Knochen, das ist das, was [dem Strich] Leben oder Tod gibt, Festigkeit und Gradlinigkeit. Der Atem, das ist wenn die Spuren der Malerei unzerstörbar sind. Deshalb verlieren die mit zu dicker Tinte gezogenen Striche ihren Körper, jene mit zu flüssiger Tinte verfehlen die Geradheit und den Atem; wenn die Sehne tot ist, kann es dort kein Fleisch haben. Ein Strich, der total unterbrochen wird, hat keine Sehne; wenn er zu bezaubern sucht, hat er keinen Knochen.“[29]


Wenn die Sprache (langage) primär ist, gibt die Schrift also Aufschluss über die intime Struktur der Dinge; dabei gibt es einen Bezug zum chinesischen Konzept lǐ .



2.3. Ein nützliches Geniessen


Die Kalligraphie entpuppt sich also als ein reines Geniessen des Schriebs [lettre], es geht darum, den einzigen Zug auf einmal zu zeichnen, ohne Unterbruch. Die Kalligraphie ist eine körperliche Kunst, Vektor des Gesagten und des Nicht-Gesagten. Für die Chinesen ist die Schrift auch Bezähmung des Körpers und des triebhaften Geniessens, sie bahnt den Weg, das Dao. Sie macht eine körperliche Haltung notwendig, die von der selben Art ist wie diejenige der körperlichen Künste, die von den taoïstischen Grundsätzen inspiriert sind.

Sie macht ein nützliches Werk und hat Anteil an diesem Geniessen, das der Taoïsmus entwickelt. Es handelt sich für den Taoïsmus tatsächlich darum, das Lebewesen zu schonen und die Bewegung des Lebens zu geniessen. Die Grundsätze und die Methoden einer langen Lebensdauer versuchen, die geschwächte Energie zu regenerieren indem sie den Atem zirkulieren lassen. Lacan erwähnt diese Techniken des Taoïsmus und insbesondere die Tatsache, sein Sperma zurückzuhalten. Es handelt sich dabei um Techniken des nützlichen Geniessens.

„All das sagt nicht, meine kleinen Freunde, dass es nicht von Zeit zu Zeit Kniffe (trucs) gegeben hätte, dank denen das Geniessen hat glauben können, zu diesem Ziel gekommen zu sein, das Denken des Seins zufriedenzustellen, aber hier füge ich dazu, dass dieses Ziel nur um den Preis einer Kastration erreicht werden konnte. Im Taoïsmus zum Beispiel — Sie wissen nicht, was das ist, natürlich     nicht, wenige wissen es, ich habe es schliesslich ausgeübt, ich habe die Texte ausgeübt, im     Taoïsmus und das Beispiel ist offenkundig, sogar in der Ausübung des Geschlechts —  muss man sein Sperma zurückhalten, um gut zu sein.“[30]


Die Schrift kann, ausgehend vom einzigen Zug, als die subtilste und ausgearbeitetste Form des nützlichen Geniessens betrachtet werden, das das Leben, die Gesundheit des Körpers und des Geistes in einer Suche nach Unsterblichkeit nährt.


Und J. Lacan fügt hinzu:

„Sie, die Schrift, nicht die Sprache [langage] gibt allen Genüssen Knochen; durchden Diskurs erweisen sich die Genüsse als sich dem sprechenden Wesen öffnend. Indem sie ihnen Knochen gibt, unterstreicht sie, was gewiss zugänglich, aber maskiert, nämlich dass das sexuelle Verhältnis auf dem Feld der Wahrheit fehlt.“[31]



2.4. Vom Chinesischen zu den Knoten


Im Laufe seiner Lehre zeichnet J. Lacan in seinen Seminaren in mehreren Wiederholungen chinesische Zeichen an die Tafel. Er gelangt sogar dazu, gezeichnete/geschriebene Kalligraphien von eigener Hand anzuführen (anlässlich der Sitzung vom 6. Juni 1961 über Die Identifikation). Diese Striche wurden von Hörern sehr ungeschickt nachgezeichnet, die meistens wenig kundig in der chinesischen Sache waren. ..... Man muss sie deshalb meistens mit Hilfe des von J. Lacan entfalteten Diskurses rekonstituieren.

So hat J. Lacan am 9. Februar auf die Tafel eine Reihe von chinesischen Zeichen gezeichnet, bevor er sein Seminar begann. Dieses Mal musste man — mehr als sonst üblich — eine Entzifferungsarbeit der verschiedenen Notizen machen, die man finden konnte. [32]

Wie es seiner Gewohnheit entspricht, schreibt J. Lacan auf klassische Weise auf, was ein Satz zu sein scheint, von rechts nach links und von oben nach unten.


                                

                                

                                

                               

                               

In offizieller phonetischer Transkription: qǐng jù shōu wǒ zèng, gài fēi yě. Die buchstäbliche Übersetzung kann sein:

einladen zu — zurückweisen — ich — anbieten

deshalb — nicht sein - [Punktsetzung]


Tatsächlich handelt es sich nicht um einen in den klassischen Schriften erwähnten Satz, und mit Grund! Bilden die drei sich folgenden Zeichen eine häufige Zelle in den klassischen Texten, so scheint der anfängliche Teil eine Formulierung von J. Lacan zu sein.

Wenn unsere Transkription richtig ist, gibt dieser Text ein Echo auf das, was J. Lacan in dieser Sitzung des Seminars in Angriff nimmt. Er bringt tatsächlich die Formel vor: „je te demande de me refuser ce que je t'offre […] parce que ça n'est pas ça“/“ich bitte Dich, zurückzuweisen was ich Dir anbiete, […] denn das ist es nicht.“ Aber warum hat er das Bedürfnis empfunden, davon eine chinesische Übersetzung nach seinem Geschmack vorzuzschlagen? Und warum hat er sie mit eigener Hand an die Tafel geschrieben? Und vor allem, warum nimmt er niemals Bezug auf diese Schrift im Laufe dieses Seminars? Er scheint diesen Text, der in seinem Rücken und zudem unter dem Blick des Auditoriums ist, zu ignorieren.


Tatsächlich wird er von diesem Tag an niemals mehr Chinesisch in der Öffentlichkeit schreiben. Seine Bezüge zur chinesischen Welt reduzieren sich in bemerkenswerter Weise und betreffen den Taoïsmus und eine Einladung, das der chinesischen Poesie gewidmete Buch von François Cheng zu lesen. Bei dieser Gelegenheit betont er, wie sehr der chinesische Dichter nicht nicht schreiben kann.


Nichtsdestoweniger macht er bei zwei Gelegenheiten eine Bemerkung, die die chinesische Schrift betrifft. Am 4. November 1975, anlässlich des Vortrags in Genf, bei dem man ihn über den Unterschied zwischen dem gesprochenen Wort und dem geschriebenen Wort befragt: [33]

„Es ist sicher, dass es hier tatsächlich eine frappierende Kluft gibt. Wie kommt es, dass es eine Rechtschreibung gibt? Das ist das Verblüffendste der Welt, und es ist offensichtlich durch das Geschriebene, dass das Sprechen seine Bresche schlägt, durch das Geschriebene und einzig durch das Geschriebene, das Geschriebene dessen, was man die Ziffern nennt, weil man nicht von den Zahlen reden will. Es gibt da etwas, das jener Ordnung angehört, wonach man eben eine Frage stellte —der Ordnung der Immamenz. Der Körper im Signifikanten hinterlässt einen Zug, der ein einziger ist.

Ich habe den „einzigen Zug“, den Freud in seiner Schrift über die Identifikation erwähnt, mit „trait unaire“ übersetzt. Um diesen „trait unaire“ dreht sich die ganze Frage des Geschriebenen. Ob die Hieroglyphe ägyptisch oder chinesisch sei, ist von diesem Gesichtspunkt aus das     gleiche.

Es handelt sich immer um eine Konfiguration des Zugs (du trait). Es ist nicht umsonst, dass man im Binärsystem  mit nichts anderem schreibt als     mit Einern und Nullen. Die Frage müsste auf folgender Ebene beurteilt werden: Welcher Art ist das Geniessen, das sich im Psychosomatischen findet? Wenn ich eine Metapher wie jene des Gefrorenen erwähnt habe, so deshalb, weil es dort mit Sicherheit diese Art Fixierung gibt. Es ist auch nicht umsonst, dass Freud den Begriff der Fixierung gebraucht, er tut es deshalb, weil der Körper sich dahin gehen lässt, etwas von der Ordnung der Zahlen zu schreiben.“


Die andere Bemerkung wurde am 11. November 1973 gemacht, anlässlich des Seminars „Les non-dupes errent“/“Die Nicht-Getäuschten irren“. [34]

„Wenn Sie sich gewissen Sprachen annähern, die weniger imaginär sind als die     unseren, die indo-europäischen Sprachen — ich habe das Gefühl, dass es nicht     falsch ist, dies von der chinesischen Sprache zu sagen — werden Sie bemerken, dass sie mit dem Knoten spielen.“


Er verbindet also die chinesische Sprache (nicht speziell die Schrift) mit den Knoten. Nun ist diese Sitzung vom 9. Februar 1972, wo er zum letzten Mal öffentlich Chinesisch schreibt, eine Schrift, deren Gründe der Präsenz rätselhaft bleiben, eine Schrift, die ihn nicht mehr interessiert .... ist diese Sitzung auch jene, in der er erstmals mit Schnurstücken kommt. Man weiss, wie fortan diese Schnurstücke seine Hände beschäftigen werden.

Welches ist also die Verbindung zwischen der chinesischen Schrift, dem Geniessen und den Knoten?

 

Plus de Chine

Guy Flecher


Mehr China [1]

Übersetzung : Peter Widmer

[1] Der Originaltitel lautet: „Plus de Chine“. Dazu schreibt der Autor: „’Plus’ kann gelesen werden als Zeichen der Suche nach mehr China. Es geht jedoch vor allem darum, die Idee eines Gewinns hervorzurufen, der Gewinn eines von Lacan gemachten Umwegs durch China und die chinesische Welt. Dieser Umweg erlaubt ihm, die Frage des Profits und des Mehrwerts, wie auch des Mehr-Geniessens einzuführen. Aber „plus“ ist auch als ein negatives Partikel aufzufassen, dass das Beenden dessen was war markiert, denn wir werden versuchen, dem nachzugehen, wann und wie Lacan aufgehört hat, sich auf die chinesische Welt zu beziehen.”


[2] J. Lacan, “D’un discours qui ne serait pas du semblant”./Von einem Diskurs, der nicht scheinhaft wäre. Das Originalzitat lautet: „Je me suis aperçu d’une chose, c’est peut-être que je ne suis lacanien que parce que j’ai fait du chinois autrefois.“ (Sitzung vom 20. Januar 1971)


[3] Mencius ist die durch die Jesuiten latinisierte Nennung des chinesischen Namens Mencius oder Meng Zi 孟子.


[4] Die Übersetzung kann wohl nie der Mehrdeutigkeit im Französischen entsprechen. „Semblant“ heisst sowohl Schein, Anschein, (an)scheinend, wie auch Seinesgleichen, Als-ob; es kommt dazu, dass das Partikel „du“ sowohl einen Genitiv (vom Schein) als auch einen Teilungsartikel (article partitif) bezeichnen kann.


[5] Anne Cheng, Histoire de la pensée chinoise; Paris, Éditions du Seuil 1997, p. 32.


[1] S. dazu < http://www.lacanchine.com/064.html >











[7] J. Lacan, “D’un discours qui ne serait pas du semblant”, 10 février 1971












[8] ebd.


[9]Parlêtre“ müsste wörtlich als „Sprechsein“ übersetzt werden, was gut zum heideggerschen „Dasein“     passen würde. Da „wesen“ jedoch gleichfalls ein heideggerscher Term ist und zugleich etymologisch     verwandt ist mit „sein“, wurde „Sprechwesen“ vorgezogen, was sich zudem in allen mir bekannten Übersetzungen durchgesetzt hat.


[10] J. Lacan, L'identification; Sitzung vom 29. November 1961 (unveröffentl.).



[11] ntérêt heisst französisch auch Zins (A.d.Ü.)













[12] Im „plus-de-jouir“ taucht erneut diese Ambiguität auf, die zugleich Mehr-Geniessen und Kein-    Geniessen-mehr enthält (A.d.Ü.)






































[13] J. Lacan, “D’un discours qui ne serait pas du semblant”, 17. Februar 1971.



















[14] Articulation“ heisst nicht nur Verlautbarung, Aussprechen, sondern auch Gliederung (lat. articulus) (A.d.Ü.)
























[15] S. dazu Jean-Marie Jadins Kommentar von „Radiophonie
















[16] Es ist übrigens überraschend, dass er ihm den Sinn von „retors“/“gewunden, geschraubt“ gibt, was sonst nirgendwo bezeugt wird.































[17] Eine Wortkreation von Lacan, die „demande“/“Verlangen“, „dimension“ und “mansion”/Haus verdichtet.


[18] trait“ lässt sich nicht mit einem Wort übersetzen; die Bedeutung ist sowohl diejenige von Zug wie     auch von Strich. Damit geht im Deutschen die Unterschiedslosigkeit von „trait unaire“ und „trait du     pinceau“ verloren — ersterer lässt sich kaum anders als mit einziger Zug (im Sinne Freuds), letzteres mit Strich (Pinselstrich) übersetzen. (A.d.Ü.)









[19] Éric Porge, "Sur les traces du chinois chez Lacan”/”Auf den Spuren des Chinesischen bei Lacan". Exposé, vorgestellt anlässlich des internationalen Symposiums der Psychoanalyse in Chengdu (China), April 2002.


[20] J. Lacan, La logique du fantasme; Sitzung vom 26. April 1967.













[21] François Cheng, Vide et plein — Le langage pictural chinois; Éditions du Seuil, 1979 ; pp. 42-43.
























[22] Pierre Rycksman, Übersetzung und Kommentar der Abhandlung über Shitao, Les propos sur la peinture du moine Citrouille-amère; 1. Auflage 1970.










[23] Éric Porge, “Sur les traces du chinois chez Lacan”; op. cit.


[24] Joël Bel Lassen.





















[25] „Lettre“ ist gerade seiner Mehrdeutigkeit wegen ein Schlüsselbegriff Lacans; er umfasst nicht nur die     (zu) statischen Wörter „Buchstaben“, „Brief“ sowie „Letter“ sondern lässt eher an den Akt des     Schreibens denken; ausserdem macht Lacan ein Wortspiel mit „l’être“/das Sein. Wenn ich mich nicht     täusche, hat N. Haas einst den Ausdruck „Schrieb“ verwendet, der dem französischen „lettre“ wohl am     nächsten kommt, wenn man den abwertenden Sinn beiseite lässt.















[26] J. Lacan, “D’un discours qui ne serait pas du semblant”, Sitzung vom 17. Februar 1971.



[27] Ebd., Sitzung vom 10. März 1971.







[28] Ebd., Sitzung vom 9. Juni 1971.



















[29] Jing Hao, “De la technique du pinceau”/Von der Technik des Pinsels.









































[30] J. Lacan, Encore, Sitzung vom 8. Mai 1973















[31] J. Lacan, “D’un discours qui ne serait pas du semblant”, Sitzung vom 9. Juni 1971.


















[32] Ich danke Guy Sizaret für seinen grossen Beitrag an dieser Entzifferungsarbeit.




















































[33] Hervorhebungen von G. Flecher
































[34] Wiederum eine Wortschöpfung Lacans, die zugleich homonym ist zu „Les nom-du-père“/“der Name-des-Vaters“ (A.d.Ü.)

TéléchargementFG03_De_files/Flecher-Widmer-Mehr%20China.pdf

Deutsch
SchriftenDe_00.html